Fürstbischof Melchior Diepenbrock übermittelt Leo Thun ein von ihm
                        verfasstes Hirtenschreiben über die kaiserlichen Entschließungen
                        bezüglich der Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirche. Leo
                        Thun hatte um ein solches Schreiben gebeten. Der Bischof gibt auch sein
                        Einverständnis zur Veröffentlichung desselben, falls der Minister dies
                        wünsche. Sollte Thun Änderungsvorschläge haben, möge er ihm diese
                        bekannt geben, bis dahin werde er mit der Ausgabe des Hirtenbriefes in
                        Breslau warten. Diepenbrock bedankt sich für die zugesagte Hilfe für den
                        Fossiliensammler Albert Koch. Schließlich dankt der Bischof Thun für
                        desen Engagement für die katholische Kirche, das dem Minister einen
                        bleibenden Platz in den Annalen der Geschichte der österreichischen
                        Kirche sichern wird.
In der Beilage erläutert Diepenbrock die
                        Neuregelung des Verhältnisses zwischen der katholischen Kirche und dem
                        österreichischen Kaiserstaat, wie sie auf Grundlage der Märzverfassung
                        in der Bischofsversammlung in Wien beraten und vom Kaiser im April 1850
                        sanktioniert wurde. Diepenbrock betont die Wichtigkeit der Beschlüsse
                        und äußert seine Freude darüber, dass die katholische Kirche in
                        Österreich endlich die Rechte erlangt hat, die ihr historisch zustehen.
                        Dies wurde auch im Ausland, etwa in Frankreich, mit großer Freude
                        wahrgenommen. Mit Vertrauen blickt der Bischof in die Zukunft und hofft,
                        dass die Kirche und der Staat bzw. die österreichische Regierung auch
                        weiterhin gemeinsam für die Freiheit des österreichischen katholischen
                        Volkes arbeiten werden.
Beilage: Entwurf eines Hirtenbriefs von Melchior Diepenbrock. Breslau, 5. Mai 1850.
Unter der Signatur A3 XXI D50 befinden sich noch zwei weitere Briefe, die
                        inhaltlich an diesen anschließen und daher wohl bei der Ordnung unter
                        einer Signatur zusammengefasst worden sind. Diese beiden Briefe sind
                        hier jeweils einzeln aufgenommen:
                        Melchior Diepenbrock an Leo Thun, Breslau, 8. Mai
                           1850.
                        
                        Melchior Diepenbrock an Leo Thun, Breslau, 10. Mai 1850.
                        
Eurer Excellenz
geehrtes Schreiben habe ich vorgestern erhalten und daraus Hochdero dringenden
                           Wunsch ersehen, daß ich über die höchst dankenswerthen Entschließungen Seiner Majestät des Kaisers und gegen die
                           darüber sich erhebenden Unkenstimmen ein bischöfliches öffentliches Wort
                           baldmöglichst reden möge. Obwohl im Gedränge von wichtigen und schwierigen
                           Arbeiten, die hier nie ausgehen, und dazu noch von Kopf- und Zahnschmerz
                           heimgesucht, habe ich mich doch sogleich daran gemacht, Ihrem Wunsche möglichst
                           zu entsprechen; und erlaube mir, anliegend ein Hirtenschreiben, in meiner eigenen Conceptschrift, eine flüchtige
                           Abschrift davon habe ich zurückbehalten, zu übersenden. Ich stehe aber hier zu
                           sehr außer dem Contact der österreichischen öffentlichen Meinung und
                           Tagesstimmen, als daß ich genau und sicher ermessen könnte, welcher Ton in
                           dieser Sache, diesen Stimmen gegenüber, als der rechte anzuschlagen. Meinen
                           bischöflichen Standpunkt konnte ich ohnehin dabei nicht aufgeben. Guizot’s citirte Worte, dann die Stelle aus
                           dem großen hier angekommenen Ami de la Religion, einem sehr verbreiteten und
                           geachteten Blatte, sind vielleicht von guter Wirkung.
Wenn Hochdieselben es
                           für zweckmäßig halten, so bin ich ganz damit einverstanden, daß Sie das
                           Hirtenschreiben dort sogleich in einem geeigneten würdigen Organe der
                           Öffentlichkeit übergeben, etwa in der Wiener Zeitung, und es mir sogleich mit 2 Worten nur sagen lassen, damit ich es hier gleichzeitig
                           ausgeben kann. Wünschten Sie jedoch im Interesse der Sache und einer heilsamen
                           Wirkung wesentliche Änderungen, so würde ich um Andeutungen bitten, und hier
                           solange damit zurückhalten. Eure Excellenz sehen schon hieraus, wie discreten
                           Gebrauch wir Bischöfe von der uns gewährten Allocutionsfreiheit machen; der
                           erste Fall, wo ich sie in Anwendung bringe, führt mich vertrauensvoll zu Ihnen
                           zurück; und mit Recht, denn Vertrauen verdient dankendes Vertrauen. Ihr Berliner
                           Herr Collega, Minister von
                                 Ladenberg, hat sich auch erst kürzlich überzeugt, wie sehr Recht
                           der alte Fürst Hardenberg
                           hatte, als er sagte (von Rom zurückkehrend), es sey mit
                           niemand so leicht und angenehm zu unterhandeln, als mit der katholischen
                           Geistlichkeit, wenn man nur einige Billigkeit mitbringe. Ich habe in meinen
                           jüngsten Verhandlungen mit Ministerialrath Aulike, dem Herrn von
                                 Ladenberg den Rückzug aus seiner falschen Position so leicht und
                           ehrenhaft als möglich gemacht; nur mußte das bestrittene Territorium, das
                           kirchliche Gewissen, natürlich mir überlassen werden.
Hinsichtlich der
                           übrigen Punkte in Eurer Excellenz geehrtem Schreiben, für dessen
                           vertrauensvollen Inhalt ich herzlichst danke, werde ich nach eingezogenen
                           näheren Erkundigungen bald möglichst zu antworten die Ehre habe. – Für die
                           gütige Bedachtnahme des Prof. Koch’s
                           Wunsch, hinsichtlich der Ermittelung eines Locales für den Hydrarchos, meinen
                           und seinen ergebensten Dank.
Vor allem aber und aus tiefstem Herzensgrunde
                           meinen wärmsten Dank für die kaiserlichen Entschließungen und deren so würdige,
                           für die Kirche wohlwollende Beantragung und Motivirung. Eure Excellenz haben
                           Sich dadurch nicht nur einen Ehrenplatz in der österreichischen Staats- und
                           Kirchengeschichte, sondern auch an einem noch bessern bleibenderen Orte
                           gesichert, von wo Ihnen einstweilen Segen und Trost in Fülle zufließen
                           möge!
Mit verehrungsvoller Ergebenheit
Eurer Excellenz
gehorsamster Diener
Melchior Fürstbischof
Breslau, 6. Mai 1850
In größter Eile, um den zu Mittag abgehenden Postzug nicht zu versäumen.
Um
                           in so wichtiger Sache sicher zu gehen, habe ich den sehr eilig
                           niedergeschriebenen Hirtenbrief vorher noch einmal dem kundigen Canonicus
                           Förster zur Durchsicht
                           mitgetheilt; von ihm rühren die Verbesserungen, die ich meistens adaptirt. Um
                           einen sorgfältig correcten Abdruck müßte ich schon dringend bitten.
                              Melchior, von Gottes
                              Barmherzigkeit und des apostolischen Stuhles Gnade, Fürstbischof von Breslau
                              etc.
seinem Ehrwürdigen Clerus und seinen geliebten Diözesanen
                              österreichischen Antheils Gruß und Segen in Christo unserm Herrn!
Ein Jahr ist es nun, daß wir katholischen Bischöfe Oesterreichs auf die Einladung unseres geliebten Kaisers und seiner Minister in
                              Wien uns versammelten, um die Angelegenheiten der
                              katholischen Kirche und ihre Beziehungen zum Staate aufgrund der neuen
                              Reichsverfassung zu berathen. Denn es war durch § 2 des allerhöchsten
                              Patentes vom 4. März 18491, der katholischen Kirche wie jeder
                              andern gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft das Recht zugesichert
                              worden, ihre Angelegenheiten selbstständig zu ordnen und zu
                                 verwalten. Je mehr dieses naturgemäße, der Kirche von ihrem
                              göttlichem Stifter verliehene Recht allmälig von dem nunmehr aufgegebenen
                              Standpunkte einer Alles überwachenden, Alles in ihre Hand fassenden
                              Staatsvormundschaft aus beschränkt worden, je enger die Bande waren, welche
                              das kirchliche Leben und seine organische Regelung in den vielrädrigen
                              Staatsmechanismus verschlungen und jede freie Bewegung verschränkt hatten,
                              umso schwieriger war die zu lösende Aufgabe.
Nach zweimonatlichen
                              angestrengten Arbeiten war es den versammelten Bischöfen gelungen, der k.k.
                              Staatsregierung ihre Ansichten, Anträge und Postulate über die wesentlichen
                              Punkte einer billigen und verfassungsmäßigen Auseinandersetzung zwischen
                              Staat und Kirche vorzulegen, und sie beschlossen das wichtige Werk, wie sie
                              es begonnen, mit feierlichem Danke und Gebete zu Gott, Seiner allmächtigen
                              und treuen Obhut die Vollendung empfehlend, und trennten sich in getroster
                              Hoffnung, nachdem sie gemeinschaftlich an ihre geliebten Mitarbeiter und an
                              ihre harrenden Gläubigen unterm 17. Juni 1849 die Worte gerichtet, welche
                              von ihrer einträchtigen Gesinnung, von ihrem Glauben und Lehren, von ihrem
                              Verhalten zur rechtmäßigen Obrigkeit und zu den Entwicklungen, den
                              Fortschritten und Irrthümern dieser bewegten Zeit vor aller Welt Zeugnis
                              gegeben, Worte katholischen Ernstes und katholischer Liebe, die Euch allen
                              hoffentlich noch in Erinnerung geblieben sind.
Das k.k.
                              Staatsministerium hat sodann in höchst dankenswerther Weise, inmitten der
                              Riesenarbeiten, welche die verfassungsmäßige Neugestaltung aller staatlichen
                              Verhältnisse der ausgedehnten Monarchie ihm auflegten, den Vorlagen und
                              Anträgen der bischöflichen Versammlung seine sorgfältige Aufmerksamkeit
                              zugewendet und nunmehr nach reiflicher Erwägung über mehrere der wichtigsten
                              Punkte an Seine Majestät den Kaiser am 7. vorigen Monats2 diejenigen Anträge gestellt, welche von
                              Allerhöchstderselben am 18. und 23. vorigen Monats genehmigt und durch das
                              Reichsgesetzblatt3 und andere öffentliche Blätter bekannt
                              gemacht und gewiß auch zu Eurer Kunde, Geliebte, gekommen sind.
Es wird
                              dadurch zuvörderst der bisher unter Staatspolizei stehende Verkehr der
                              Bischöfe und aller Katholiken mit ihrem obersten Hirten dem Papste, wie dies
                              sogar in protestantischen Ländern längst geschehen, freigegeben. Daß nun
                              dies in demselben Augenblicke geschieht, wo der heilige Vater nach
                              anderthalbjährigem Exile in seine Hauptstadt und auf seinen geheiligten Sitz
                              segnend zurückkehrt, aber muß wohl allen gläubigen Katholiken als eine
                              wunderbare Fügung Gottes, den Katholiken Oesterreichs aber insbesondere als ein höchst erfreuliches
                              und bedeutungsvolles Ereignis erscheinen. Denn was die republikanischen
                              Waffen Frankreichs – zu ihrer Ehre sey
                              dies gesagt – äußerlich gethan, daß sie den bedrängten Vater der
                              Christenheit geschützt und ihn nun frei und sicher und im Triumphe auf Petri
                              heiligen Stuhl zur unbehemmten Verwaltung seines obersten Kirchenamtes
                              zurückgeführt, - dasselbe hat geistiger Weise und bedeutungsvoller noch die
                              treue wohlberathene Hand des jugendlichen Kaisers, den Gott dafür segnen
                              wird, gethan, indem sie für Oesterreichs weite Lande und zahlreiche Völker des heiligen
                              Vaters Ohr und Mund von unwürdiger Fessel gelöst und durch Beseitigung
                              verdachtvoll kränkender Schranken in den freien Verkehr mit seinen
                              bischöflichen Amtsbrüdern und seinen Gläubigen wieder eingesetzt hat.
                              Oesterreich ist also auch hierin jetzt nicht hinter
                              Frankreich und nicht hinter
                              England, America und
                              Preußen, den freiesten Ländern, zurück.
Es wird
                              dann ferner durch die Allerhöchste Entschließung vom 18. April den Bischöfen
                              auch das bisher verschränkte Recht freigegeben, über Gegenstände ihres
                              heiligen Amtes an ihren Clerus und ihre Gemeinden ohne vorherige Genehmigung
                              der Staatsbehörden Ermahnungen und Anordnungen zu erlassen. Und – frage ich
                              – konnte man wohl den für ihr Amt und ihre Lehre verantwortlichen Bischöfen
                              dieses Recht vorenthalten in einer Zeit, wo es Jedem täglich gestattet ist,
                              durch die Presse auf Tausende und Hunderttausende belehrend oder verführend
                              einzuwirken, und aus verborgenem Winkel, ohne Namen, ohne Bürgschaft und
                              häufig ohne Beruf über die wichtigsten und heiligsten Dinge absprechend zu
                              urtheilen? Konnte unter einer Verfassung, welche von Seite des Staates „die Wissenschaft und ihre Lehre frei erklärt“ eine
                              officielle4Staatsexegese festgehalten werden, welche dem göttlichen
                              Sendungsworte Christi an seine Apostel und ihre Nachfolger, die Bischöfe:
                              „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden;
                                 darum gehet hin und lehret alle Völker, was Ich euch befohlen
                                 habe“, von Amtswegen die erklärende Randglosse beifügte: „in
                              Oesterreich ist diese Gewalt nicht unbedingt anerkannt; hier lehren die
                              Bischöfe nur, was die (1800 Jahre später gekommenen) Staatscensoren
                              gutheißen.“
<Ich möchte lieber sagen – Wundert Euch nicht über diese
                              unverblümte Darstellung einer Wahrheit, die an sich so furchtbar ernst, in
                              ihrer Verkennung so unheilbringend ist.>
                              5Sodann wird in der
                              kaiserlichen Entschließung auf den begründeten Antrag des Ministeriums der
                              katholischen Kirche, die ja ihre Angelegenheiten selbstständig
                                 ordnen und verwalten soll, dementsprechend auch die selbsteigene
                              Handhabung ihrer uralten, gesetzlich geordneten Disciplin zuerkannt. Was
                              jeder Privatgesellschaft, jeder Freimaurerloge, jedem Club, jedem
                              Actienvereine überall zusteht, was der jüdischen Synagoge nirgend verwehrt
                              ward, das soll nun auch der katholischen Kirche in
                              Oesterreich nicht länger vorenthalten bleiben: die
                              ungehinderte Überwachung der Pflichterfüllung ihrer Organe und Diener; das
                              ihren weisen Gesetzen entsprechende stufenweise Einschreiten gegen
                              Amtsvernachlässigungen und Dienstesuntreue; die Ausschließung unwürdiger,
                              die Kirche schändender, ihren Gesetzen offen trotzender Glieder aus ihrer
                              Gemeinschaft, und die Prüfung und Würdigung der intellectuellen und
                              sittlichen Tüchtigkeit derjenigen, welche ihrem heiligen Dienste in den
                              verschiedenen Amtsstufen sich widmen wollen. Zugeständnisse, welche bei
                              jeder geregelten Gesellschaft sich von selbst verstehen; Rechte, welche die
                              Kirche Gottes ein Jahrtausend vor dem Entstehen aller heutigen Staaten
                              besessen und geübt vom Anfang an, selbst unter dem grausamen Drucke blutiger
                              Verfolgung; Rechte, für deren Verkümmerung kein noch so wohlgemeinter
                              Staatsschutz zu entschädigen vermag, so wenig einem gesunden Leibe sein
                              innerer organischer Lebenshaushalt durch äußerliche auch noch so künstliche
                              Apparate ersetzt werden kann.
Endlich ist der katholischen Kirche durch
                              die jüngste kaiserliche Entschließung vom 23. April in Erfüllung des § 4 der
                              Reichsverfassung der ihr bezüglich ihrer Glaubensgenossen zugesicherte und
                              gebührende Einfluß auf Erziehung und Bildung in den Volks- sowohl als in den
                              höheren Schulen, zunächst und vor allem aber auf die Heranbildung ihrer
                              eigenen künftigen Diener, der Priester, eingeräumt worden. Konnte man in
                              einem Staate, dessen ganze Geschichte und Gesittung, dessen Ruhm und Glanz,
                              dessen Kunst und Bildung, dessen Daseyn und Zukunft auf katholischer
                              Grundlage ruhet, wie sein herrlicher St. Stephansdom auf geweihtem
                              Fundamente, für die freigelassene Kirche minder erwarten, minder gewähren?
                              Konnte die katholische Kirche, im Bewußtseyn ihrer göttlichen Sendung, ihres
                              Lehrauftrages an alle Jahrhunderte und alle kommenden Geschlechter, sich mit
                              weniger begnügen? Aus ihrem fürsorglichen Schoße waren alle minderen und
                              höheren Schulen und Bildungsanstalten ursprünglich hervorgegangen; sie hatte
                              sie mit ihrem erziehenden Geiste durchdrungen und Gesittung in die rohen
                              Massen gebracht, die höchste Gesittung, deren diese fähig und bedürftig, die
                              Gesittung des Glaubens und der Liebe! Sollte sie auf diesem ihr von Gott
                              übertragenen Beruf und Einfluß fortan verzichten? In einem Augenblick
                              verzichten, wo die Gefahr der Verführung, des Entfremdetwerdens der
                              heranwachsenden Geschlechter von ihrer höchsten ewigen Bestimmung grösser
                              ist, als sie je seit den Tagen der Erlösung gewesen? – Nein, das konnte, das
                              durfte die Kirche Gottes nicht: sie hätte damit sich selbst aufgegeben und
                              hätte treulos das Volk, von dem sie sich also zurückzöge oder zurückdrängen
                              ließe, dem ärgsten Fluche und sicherem Verderben geweiht, sie die Mutter des
                              Segens und des Heiles: <Denn ein christliches6 Volk, dessen Kindern der Heilstern
                              des Glaubens nicht mehr auf die Wiege niederleuchtet, dessen Jugend die
                              Sonne des Evangeliums nicht mehr die Herzen durchwärmt>,7ist schon dem Untergange verfallen. Das ganze
                              alte und das ganze neue Testament und die ganze Weltgeschichte, ihr
                              lebendiger Commentar, wären eine große Lüge, wenn dies nicht Wahrheit
                              ist!
"Das sind salbungsvolle Worte“, höre ich Manchen sagen, „hinter
                              denen sich priesterliche Herrschsucht versteckt; hierarchische Gelüste,
                              bischöfliche Anmaßung, mittelalterliche Priestertyrannei, reactionäire
                              Volksverknechtung, Preisgeben der Errungenschaften an die Geistlichkeit“ –
                              <und wie alle die Ausrufe lauten, womit an vielen Orten die
                              gerechten8Entschließungen unseres edlen Kaisers begrüßt werden.>9So verstehen die vorgeblichen Herolde der Freiheit dies ihr
                              Idol, daß sie den ersten wichtigen Schritt, den ein gewissenhaftes
                              Ministerium einem <hochherzigen Fürsten in Erfüllung eines feierlich
                              gegebenen Wortes zur Verwirklichung der wahren Freiheit anräth, als eine
                              Versündigung an dieser Freiheit, als einen Rückschritt zu mißdeuten ja als
                              eine Pflichtverletzung anzuklagen sich nicht scheuten.>10Mögen sie denn, anstatt der
                              verdächtigten Priesterstimme, die die Worte eines bewährten
                              Geschichtsforschers und vielgeprüften Staatsmannes vernehmen, die er
                              (Nichtkatholik) vor wenigen Tagen seinem an demokratischer Freiheit
                              krampfhaft versiechenden Volke zurief:
„Wahnsinn ist’s“, sprach
                              
                                    Guizot
                                     in
                              Paris, „Wahnsinn ist’s, bürgerliche Freiheit und
                              Volksherrschaft durch Nachlaß von der Strenge des Glaubens und der Sitten
                              verbreiten zu wollen. Starke Gläubigkeit und strenge Sitten sind für die
                              Demokratie und die Volksfreiheit unerläßlich.
Wie das Christenthum das
                              Geheimnis des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung besitzt, so besitzt es
                              auch mehr als irgendwas die wahren Geheimnisse der Ordnung und der
                              gesellschaftlichen Wiedergeburt … Machet Christen, denn
                              Christen braucht unsre Gesellschaft!“ – Hat wohl die constitutionelle
                              Monarchie andere Lebensbedingungen? Gewiß nicht: auch sie braucht Christen, und nur die Kirche in ihrer freien Entwickelung
                              kann sie ihr geben.
Aber auch noch einer andern Seite hin wendet sich
                              die schlaue oder mißverstehende Verdächtigung der kaiserlichen
                              Entschließungen. Auch Euch, geliebte Mitbrüder im Herrn, sucht man zu
                              bethören durch das Schreckbild der bischöflichen Tyrannei, welcher Ihr durch
                              diese neuen Einrichtungen verfallet, gleichsam als wäre der bischöfliche
                              Arm, nachdem die Staatsfessel ihm abgenommen, auch schon erhoben, um Euch
                              mit eiserner Ruthe zu schlagen. – O diese Eure bekümmerten aufdringlichen
                              Anwälte, wie wenig kennen sie – ich sage nicht –uns
                                 Bischöfe und den Geist unsrer Amtsvorschriften – wie wenig kennen
                              sie Euch, geliebte Brüder, Euere Gesinnungen, Euer
                              Vertrauen und Eure Liebe zu Eurem Oberhirten, die Euch als Christi
                              Stellvertreter – wie unwürdig auch – gelten! Oder habt Ihr nicht, Ehrwürdige
                              Brüder, in den Berathungen, zu welchen ich im vorigen Jahre vor meiner Reise
                              nach Wien, Euch aufforderte, um aus Eurer Einsicht
                              und Erfahrung nützlichen Rath für das wichtige Werk der Episkopalversammlung
                              zu schöpfen und mitzubringen, habt Ihr nicht in den ausführlichen
                              gründlichen Interessen, welche aus beiden Commissariaten, 
                                 Teschen
                                  und 
                                 Neiße
                                 , mir am 17. April vorigen Jahres
                              eingesandt wurden, mit treuem und erleuchtetem priesterlichen Sinne ganz
                              dieselben Wünsche und Anträge hinsichtlich der Freigebung11der Kirche, ihrer
                              Verwaltung, ihrer Disciplin und ihres Lehramtes usw. ausgesprochen, deren
                              Gewährung Ihr nun in den kaiserlichen Entschließungen mit allen wahren
                              Katholiken Europas freudig begrüßet?
Gern werdet Ihr
                              daher auch vernehmen, wie eine geachtete, weitverbreitete Stimme aus
                              Frankreich (l’ami de la Religion, 28. April) sich
                              schon jetzt darüber ausspricht: „Die österreichische Staatsregierung“, sagt
                              sie, „hat soeben einen seiner großartigen Acte der Gerechtigkeit und der
                              Genugthuung vollzogen, welche hinreichen, eine Regierung glorreich zu machen
                              und im Volk auf eine bewunderte Höhe in der Achtung der Welt zu erheben.
                              Durch eine, auf den Antrag der Unterrichtsministers Grafen Thun
                                    
                              erlassene Entschließung hat Seine Majestät der Kaiser 
                                    Franz Joseph
                                     der
                              katholischen Kirche ihre Freiheit, ihre Rechte, ihre Selbstständigkeit
                              wiedergegeben. … Nichts konnte auf Oesterreichs Kaiser einen reineren Ruhm und verdientere Segnungen
                              herabziehen. Durch ihn nimmt das Haus Habsburg in der Geschichte den
                              erhabenen Rang wieder ein, den es so lange behauptet hat, da es sich als
                              eine wahrhaft katholische Macht darstellte. Durch ihn ist die Stellung des
                              Klerus und des Episkopats in Oesterreich, die für die
                              Christenheit so lange ein Gegenstand der Trauer und der Schmach war, nun ein
                              Gegenstand freudiger Glückswünsche geworden. Wahrhaftig es ist etwas Großes
                              und Edeles in dem Anblicke einer Regierung, welche mit einer Hand die
                              Empörung niederhält, die Anarchie erdrückt, Ordnung, Frieden und
                              Gesetzlichkeit herstellt, und mit der andern die Fesseln zerbricht, deren
                              schwerer Druck die einzige Macht niederhielt, welche das Geheimnis besitzt,
                              die gesellschaftliche Ordnung zu retten! "O daß unser
                              Frankreich diesem muthigen Beispiele folgen möchte!
                              Die Freiheit der Kirche, wir wissen es, ist heutzutage eine gesicherte,
                              ausser Frage gestellte Thatsache. Es [er]übrigt nur, aus unseren Gesetzen
                              die Spuren einer verurtheilten Willkürherrschaft zu tilgen, deren Wiederkehr
                              uns unmöglich scheint … Aber alle Christen überall sind solidarisch
                              verbunden, und die Freude unsrer österreichischen Brüder ist die unsrige;
                              ihr Sieg ist unser Sieg! Denn gern wiederholen wir es, und es ist unser
                              Wahlspruch: Nil magis diligit Deus, quam libertatem Ecclesiae
                              suae."
Das, Geliebte, ist die Stimme der Katholiken
                              Frankreichs, die in sechszigjähriger theurer und
                              blutiger Erfahrungsschule gelernt haben, die wahre Freiheit von der falschen
                              zu unterscheiden. Sie mag uns, sie mag den edeln Kaiser und seine treuen
                              Räthe trösten über die falschen Urtheile, über den Undank und Unglimpf,
                              welche seine große That hier und dort erfährt, wenn es überhaupt bei einem
                              heiligen Acte der Gerechtigkeit solchen Trostes bedarf.
Wie wir nun die uns gewährte Freiheit gebrauchen werden?
                              fragt man gespannt. Wir wollen sie gebrauchen im wahren Geiste und Sinne
                              Jesu Christi und seiner Apostel,12im Geiste der Liebe, der Demuth, der Mäßigung, der
                              Bildung, der Zucht, des Gehorsams, der Treue und der Dankbarkeit gegen Gott
                              und den geliebten Kaiser. Je bestimmter und sicherer nunmehr die Gränzen
                              zwischen Staat und Kirche gezogen sind, umso gewissenhafter wollen wir sie
                              beachten und auch in dem, was des Staates ist, alle die Treue und Hingebung
                              bewähren, womit wir im Sinne des Christenthums den Gläubigen vorleuchten
                              sollen. Noch manche Frage wird im Einzelnen zu lösen, manche Ausgleichung
                              durchzuführen seyn. Wir wollen mit vollem Vertrauen und rechter
                              Gewissenhaftigkeit daran gehen; denn Vertrauen hat uns der Kaiser und seine Regierung bewiesen, und
                              dies Vertrauen soll erwiedert, soll gelohnt werden. Die katholische Kirche
                              hat sich immer dankbar gezeigt für jede Wohlthat, auch wenn sie nur
                              Gerechtigkeit war. Unser bester Dank aber mögen die Segnungen seyn, welche
                              die Kirche in freier, treuer Wirksamkeit über die Völker und ihre
                              fortschreitende Entwickelung auszubreiten von ihrem göttlichen Stifter Beruf
                              und Macht hat. Viribus unitis! Das sey auch fortan der Wahlspruch der Kirche
                              in ihrem neuen freien Verhältnisse zum Staate: mit willig geeinten Kräften
                              hinan zum großen Ziele, einer in wahrer christlicher Freiheit dauerhaft
                              begründeten Volksbeglückung unter Habsburgs glorreichem Scepter.
Gott
                              segne den Kaiser!
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi sey mit Euch
                              Allen. Amen.
Gegeben zu Breslau, am Sonntage Rogate, den 5. Mai
                              1850
Melchior