Ferdinand Arlt, Professor der Augenheilkunde, äußert sich zur Reform der Gymnasien und der Universitäten. Zunächst widmet er sich den Gymnasien: Dabei kritisiert er das Fachlehrersystem in den ersten vier Klassen sowie die Handhabe bei der Vergabe von Noten in den Schulzeugnissen. Aus seiner Sicht sind diese sowohl für die Schüler als auch die Eltern unverständlich und damit unnütz, außerdem findet er es insgesamt bedenklich, die Charaktereigenschaften der Schüler zu bezeichnen und zu bewerten. Schließlich übt Arlt auch Kritik an der Dauer der Ferien. Seiner Ansicht nach sollten die Gymnasien und Universitäten dieselbe Feriendauer haben. Im Hinblick auf die Reform der Universitäten äußert sich Arlt zunächst kritisch zur Lehr- und Lernfreiheit: Er hält zwar die größere Freiheit an den Universitäten sowohl für Professoren als auch Studenten für sehr erfreulich, dennoch ist er der Meinung, dass sich das jetzige Studiensystem auf Dauer nicht bewähren wird. Die Gründe hierfür sieht er darin, dass durch die Lernfreiheit sowohl der organische Aufbau des Studiums als auch die Möglichkeit, die Studenten zu überwachen und sie zu fleißigerem Besuch der Kollegien anzuhalten verloren gegangen sei. Dabei sieht er auch einen grundsätzlichen Unterschied in der Einstellung der Studenten zu ihrem Studium in Deutschland und Österreich. Er betont vor allem, dass in Deutschland ein abgeschlossenes Studium ein größeres soziales Prestige mit sich bringe und daher der Ehrgeiz der Studenten größer sei. Schließlich schlägt er auch noch einige Möglichkeiten vor, die Studenten zu einer stärkeren Frequentation der Kollegien zu bringen. Allerdings betont er selbst, dass diese Maßnahmen vom pädagogischen Standpunkt wenig sinnvoll seien.
Beim Gymnasialstudium halte ich drei Sachen für
unzweckmäßig:
1. Die Fachlehrer für die ersten 4 Klassen. Hier ist
erfahrungsgemäß ein patriarchalisches Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern
angezeigt. Es ist noch nicht so sehr auf das zu sehen, wie
viel die Schüler aufnehmen, als darauf, wie sie
aufnehmen und daß sie Lust und Liebe bekommen. Die bei Fachlehrern
unvermeidliche Mannigfaltigkeit der Methode schadet fast eben in der Art wie das
öftere Wechseln mit Lehrern und Erziehern. Überdies werden in diesen 4 Jahren
die Gegenstände nur in einem derartigen Umfange vorgetragen, daß die Wahl von
Lehrern für jedes Fach separat gar nicht nöthig erscheint. Eine harmonische
proportionierte Ausbildung in den hier vorzutragenden Gegenständen ist nöthig,
und diese kann nur durch einen Lehrer
gegeben werden.
2. Die Schulzeugnisse werden in einer Sprache ausgestellt,
mit Ausdrücken, aus denen man nicht klug wird. Es ist mir einige Male begegnet,
daß ich nach den Kalkülen aus den einzelnen Gegenständen einen sehr oder doch
ziemlich braven Schüler vor mir zu haben; erst die Zahl, z. B. er ist unter 65
Schülern der 43., gab mir Aufschluß, daß ich einen sehr mittelmäßigen Studenten
vor mir hatte. Es ist anzunehmen, daß ununterrichtete Eltern selbst die
Bedeutung dieser Zahl nicht verstehen, daher gar nicht wissen, woran sie mit
ihren Kindern sind. Es sind mir Zeugnisse zu Gesicht gekommen, mit Ausdrücken
(Bezeichnungen von Eigenschaften des Knaben), nach denen man billig zweifeln
muß, daß die Lehrer die ersten Elemente der Psychologie und Pädagogik inne
haben. Ich wenigstens würde nie einem Kinde – zumal andern gegenüber –
schriftlich, ja nicht einmal mündlich sagen, es sei sehr talentirt, habe einen
gutmüthigen Charakter u. dgl. Endlich weiß ich aus Erfahrung, daß einem Kinde,
das Ehrgefühl hat, nicht leicht etwas mehr weh thut und für seine
Lebensanschauung gefährlicher wird, als wenn es andern, die ihm gewiß nicht
überlegen sind, in der Rangordnung nachgesetzt wird. Es ist aber unmöglich zu
sagen, der sei unter 60 Schülern der 40. und der der 50., zumal wenn der Calcül
aus so vielen Fächern und von ganz verschiedenen Lehrern combinirt wird.
3.
Ein großer Übelstand ist der, daß die Kinder viele Wochen hindurch ohne
Beschäftigung sind und doch keine Ferien haben. Ungefähr 3–4 Wochen vor der
Austheilung der Atteste sind die Lehrer mit der Zusammenstellung der Klassen
beschäftigt, und die Kinder haben entweder den ganzen oder doch den halben Tag
keine Schule. So verfallen sie dem müßigen Herumschlendern. Es wäre besser, man
ließe sie nach Hause gehen. Ebenso vergehen zu Anfang des Schuljahres mit den
Maturitätsprüfungen 2–3 Wochen, bevor die Studien ordentlich beginnen. Hierher
gehört auch der Übelstand, daß die Gymnasiasten nur 6 Wochen Ferien haben.
Eltern, welche Kinder an das Gymnasium und an die Universität zu schicken haben,
müssen sie getrennt schicken. Eltern, welche zu Anfang des Jahres für ihre
Kinder Correpetitoren, Erzieher usw. suchen, finden diese noch nicht in der
Universität, oder letztere müssen bloß der Lektionen wegen früher, als ihre
Studien beginnen, um 2–4 Wochen ihre Heimat verlassen. An der Universität gibt
es faktisch 10–12 Wochen Ferien, am Gymnasium der Form nach nur 6 Wochen. Ich
sehe keinen vernünftigen Grund ein, warum nicht für die niedern Schulen dieselbe
Beginnzeit bemessen sein soll wie für die höhern.
Rücksichtlich der Universitätsstudien will ich mich bloß auf den Standpunkt des
Mediziners stellen; die andern Fächer kenne ich zu wenig.
Ich bin durchaus
für eine freiere Bewegung an der Universität, sowohl was die Lehrer als was die
Lernenden betrifft. Die frühern Vorschriften waren, wenn sie pedantisch gehandhabt wurden, beengend, nachtheilig; sie wurden aber
wenigstens in den Jahren und an der
Anstalt, wo ich studierte, so gehandhabt, daß, wer immer Lust und Liebe zum
Lernen hatte, dieselben nicht fühlte, mancher wankende auf den rechten Weg
gebracht und darauf durch einen nichts weniger als nachtheiligen Zwang erhalten
wurde, bis er wieder so weit war, daß der Zwang ihm nicht mehr fühlbar
wurde.
Das System, nach welchem früher an unsern Universitäten vorgegangen
wurde, war ein organisches wohlgegliedertes Ganzes, das mit unsern staatlichen
und socialen Verhältnissen innig zusammenhing, sich aus denselben herausgebildet
und auf diese wieder zurückgewirkt hatte. Das System der sogenannten Lehr- und
Lernfreiheit der deutschen Universitäten ist ein organisches Ganzes von ganz
anderer Art, aus anderen staatlichen und socialen Verhältnissen hervorgegangen
und andere derlei Verhältnisse voraussetzend. Unser jetziges System ist – wenn
ich meine Meinung frei aussprechen soll – aus Elementen des einen und des andern
zusammengesetzt und meines Erachtens in dieser Form für die Dauer nicht haltbar,
außer zum Nachtheile für die Wissenschaft und die Gesellschaft, für welche eben
die Universitäten erhalten werden.
1. Bei unserem jetzigen Systeme ist nicht
dafür gesorgt, daß die Schüler die Collegien ununterbrochen
besuchen. Früher konnte der Lehrer so oft er es für nöthig hielt, die Schüler
namentlich aufrufen und die Abwesenheit des einen oder des andern im Cataloge
verzeichnen. Jeder Schüler wußte, daß 3 Absenzen den Lehrer ermächtigten, im
Fleiße die 2. Klasse zu geben. Krankheit, legal nachgewiesen, entschuldigte.
Hiemit wurde manchmal Unfug getrieben. Es kam indes doch äußerst selten vor, daß
sich ein Arzt zu einem falschen Zeugnisse herbei ließ, und es wurden auch
Zeugnisse, gegen welche gegründeter Verdacht vorlag, nicht beachtet. Der
Collegienbesuch war im Vergleich zum jetzigen ein musterhafter, am meisten
gerade bei jenen Professoren, welche das Cataloglesen nicht handwerksmäßig
betrieben, sondern von ihrem Rechte einen vernünftigen Gebrauch
machten.
Jetzt kennt man selbst in den praktischen Fächern seine Schüler
nicht dem Namen nach. Man muß jedem die Frequenz bestätigen, von dem man nicht
weiß, er habe die Collegien so wenig frequentirt, daß der Zweck des Unterrichtes
nicht erreicht werden könne. So unbestimmt, so elastisch wie diese Norm, ist
wohl kaum eine zweite irgendwo vorhanden. Wenn ich auch weiß, der und der hat
nachlässig frequentirt, kann ich beurtheilen, ob bei ihm der Zweck des
Unterrichtes habe erreicht werden können? Und wenn ich glaube, mit gutem
Gewissen die Frequenzbestätigung verweigern zu können, so erscheint mein Akt als
eine Art von Willkühr. Der Schüler kann sagen: ich war da, wurde nur nicht
bemerkt, oder doch: ich war öfter da als der und jener, usw. Und die Strafe ist
in der That eine sehr harte. Sie bringt den Lehrer eines obligaten Gegenstandes,
wenn der Schüler Collegiengeld zahlt, in eine doppelt unangenehme Lage. Der
Lehrer hält eine Reihe zusammenhängender Vorträge; die folgenden setzen die
Kenntnis der frühern voraus. Einmal fehlt der, dann wieder der und jener; nun
kommt man ans Krankenbett, stützt sich auf Vorgetragenes und sieht, daß er das
frühere versäumt, obwohl einem nicht bekannt ist, daß er abwesend war, nun muß
man entweder diesem einzigen zu Gefallen das Ganze wiederholen oder der Zweck
des Unterrichtes geht für ihn verloren. So ist es, wenn ich offen sprechen soll,
nur höchstens ein Drittel der Schüler, bei denen der Zweck erreicht wird.
Ja
aber, a) man setzt von Universitätsschülern schon so viel Eifer voraus! Und b)
die Berichte über den Collegienbesuch lauten anders!
Ad b. Durch die
Berichte über die Collegienfrequenz kann das hohe Ministerium
keine Wahrheit erfahren. Da tragen über dasselbe Fach 2 ordentliche Professoren
vor oder ein Professor und ein Dozent. Nun gibt der eine ein gutes Zeugnis ab;
wird wohl sein Rival ein ungünstiges abgeben? Oder der früher Abstimmende weiß,
daß sein Rival ein günstiges oder ungünstiges abgeben werde, oder er vermuthet
es nur, wird er nicht für jeden Fall lieber ein günstiges geben? Ist nicht
wenigstens die Versuchung dazu sehr groß und ist ein solches Handeln nicht
gewissermaßen zu entschuldigen?
Ad a. Man setzt von den Schülern Lust und
Liebe voraus. Man findet dieselbe leider jedoch kaum bei einem Drittel in
solchem Grade, daß sie die Collegien ununterbrochen besuchen. Aber in
Deutschland gehts ja schon seit Jahren gut! Dort sind
andere Verhältnisse. Dort, wo Landsmannschaften bestehen, ist es ein
wesentlicher Theil des Zweckes, den sie sich setzen, daß die ältern die jüngern
in Bezug auf den Collegienbesuch überwachen. In den kleineren
Universitätsstädten kennt man das Thun und Treiben eines Jeden. Dort ist auch
das Studieren mehr Ehrensache als bei uns. In Oesterreich
wird man nicht finden, daß ein Rentier, ein reicher Kaufherr seinen Sohn Medizin
studieren läßt. Warum? In den deutschen Ländern außer
Oesterreich bringt die Wissenschaft zugleich eine höhere
Stellung im sozialen Leben, der Mann der Wissenschaft ist hoch geachtet,
bürgerlich höher gestellt. Das muß bei uns erst mit der Zeit anders werden. Um
ein Beispiel anzuführen: der Kliniker in Berlin ist
zugleich Leibarzt des Königs. Liebich
in München wird höchsten Orts ausgezeichnet. Das wirft
auf den ganzen Stand der Gelehrten einen Abglanz von Achtung im großen Publicum.
Der Student hat eine Triebfeder mehr, es ist der Ehrgeitz [sic!]. Bei uns
studiert man fast ohne Ausnahme (bei einigen Juristen) nur um des Erwerbes, der
künftigen Existenz willen. Die meisten Studenten (der Medizin wenigstens) sind
arm, wenige haben so viel, daß sie die Auslagen aus Eigenem bestreiten können;
solche, die über so viel Vermögen verfügen können, daß sie von den Interessen
anständig leben könnten, findet man fast gar nicht. In
Deutschland scheint das umgekehrte Verhältnis
stattzufinden, sonst könnten nicht so viele Fremde an unsere und andere
Universitäten reisen, während aus dem großen und reichen Oestreich fast niemand hinausgeht, z. B. nach
Paris; es fehlen ihnen die pekuniären
Subsidien.
Die einzige Zwangsmaßregel zum fleißigeren Besuch, die außer den
obgenannten besteht, ist die, daß Mitte des Semesters sich der Lehrkörper
versammelt und jeder Dozent die Fahrlässigen anmeldet, damit sie der Dekan
vorrufe und ermahne. Diese Maßregel ist unpädagogisch. Ich will es durch ein
Beispiel erläutern. Im vorigen Semester war der Chirurg F. inskribirt. Er
praktizirte in der Stadt und besuchte sehr wenig. Ich meldete dies in der
obgenannten Versammlung. Die Mahnung erfolgte und demgemäß ein ziemlich
fleißiger Besuch der 2. Hälfte des 3-monatlichen Semesters.
Wenn das in der 1. Hälfte Vorgetragene und zu Sehende versäumt war, konnte das
in der 2. Hälfte Vorgetragene und zu Sehende wohl verstanden werden? Nun
besuchte er aber in der 2. Hälfte fleißig. Konnte ihm dann wohl die
Frequenzbestätigung verweigert werden? Wozu dann die Mahnung? Die Strafe dürfte
nur in dem Falle verhängt werden, wenn keine Besserung
erfolgte. Sie ist aber erfolgt, und doch habe ich die Überzeugung, daß dieser
Schüler von dem in Rede stehenden Collegium wenig mehr als keinen Nutzen gehabt, der Zweck des Unterrichtes keineswegs erreicht
worden ist.
Wenn keine Jahresprüfungen abgehalten werden – und ich sehne
mich in der That nicht darnach zurück – so müssen andere strenge
Prüfungen pro doctorate eingeführt werden. Schüler, die man nicht
einmal dem Namen nach kennt, kann man nach einem ¼-stündigen, respektive
2-stündigen Examen nicht beurtheilen. Um nicht gegen einen einzelnen, der
vielleicht eben nicht disponirt ist, zu hart zu sein, wird man als Examinator im
Allgemeinen zu gelind. So werden Leute promovirt, die dem Stande, dem Staate
wenig Ehre machen. Man kann 5–6 Jahre an der Universität zubringen, ohne etwas
zu thun, außer daß man die Collegien besucht. Die Eltern glauben, es sei alles
in bester Ordnung.
Man kann auch nach 5–6 müßig verlebten Jahren aus jedem
Gegenstande so viel lernen, als zu einem viertelstündigen Examen erfordert
wird.