Leo Thun bietet dem Juristen Philipp Anton Segesser einen Lehrstuhl an der Universität Graz an. Thun erklärt, dass er von Ministerialrat Bernhard Meyer erfahren habe, dass Segesser bereit wäre, einen Lehrstuhl an dieser Universität zu übernehmen. Thun unterbreitet ihm daher ein Angebot, das den regulären Gehaltssätzen der Universität Graz entspricht. Thun ist sich zwar bewusst, dass das Angebot nicht glänzend ist, hofft aber Segesser dennoch nach Österreich ziehen zu können.
Abgedruckt bei: Viktor Conzemius, Briefwechsel Philipp Anton von Segesser (1817–1888). Bd. II. bearb. von Catherine Bosshart-Pfluger, Zürich 1986.
Wien am 27. Oktober 1856
Geehrter Herr Nazionalrath!
Aus dem vom Ministerialrathe Dr. Bernhard
Meyer mir mitgetheilten Schreiben Eurer Wohlgeboren vom 19. des
Monats habe ich ersehen, daß die Eröffnung, welche er Ihnen meinem Wunsch
entsprechend, über ihre Berufung an die Universität Gratz [Graz] gemacht hat, nicht jene Aufschlüsse über
die Ihnen angebotene Stellung enthielt, welche nothwendig gewesen wäre, um Sie
zu einer definitiven Entschließung über die Annahme derselben zu vermögen. Ich
sehe mich dadurch veranlasst, sie in Folgendem zu ertheilen:
Die Lehrkanzel,
auf welche Seine Majestät der Kaiser sie
zu berufen Willens, ist, ist jene der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte und
des deutschen Privatrechtes, welche beiden Lehrfächer, wie ich nach der Richtung
Ihrer bisherigen Studien und wissenschaftlichen Arbeiten voraussetzen darf,
Ihrer Neigung entsprechen würden.
Die materiellen Vortheile, welche mit
dieser Lehrkanzel verbunden sind, bestehen in dem fixen Gehalte von 1000 fl CM,
und dem Vorrückungsrecht in die höheren Gehaltsstufen von 1200 fl Und 1400 fl
CM, wobei Ihnen der Erlag jener Taxe, welche Sie nach den diesfalls bestehenden
Normativen von dem ersten Jahresgehalte zu erlegen hätten, von Seiner Majestät nachgesehen würde. Ich
verkenne nicht, daß diese Bedingungen keineswegs glänzend sind, und habe mich
auch nur deßhalb veranlasst gefunden, Ihnen gleichwohl die in Rede stehende
Stellung anzubieten, weil ich aus den Mittheilungen, welche mir der ehemalige
Gesandte Freiherr von Kübeck
gemacht hat, entnehmen zu sollen glaubte, es werde Ihnen erwünscht sein, Ihre
gegenwärtigen Verhältnisse mit einem Wirkungskreise in
Oesterreich zu vertauschen, ohne Rücksicht auf den
Umstand, ob damit Vortheile in materieller Beziehung verbunden seien. Eure
Wohlgeboren wollen demnach in diesem Anerbieten lediglich einen Beweis meines
aufrichtigen Bestrebens sehen, dem vermeintlichen Wunsche Eurer Wohlgeboren in
so weit als möglich war entgegenzukommen, wobei es mir sehr erfreulich wäre,
dadurch für Oesterreich wieder einen der hervorragenden Vorkämpfer des Rechtes
und der Ordnung in der Schweiz zu gewinnen. So sehr ich
bedauern müsste, diese Hoffnung nicht erfüllt zu sehen, so erübrigt mir doch
nichts, als es Eurer Wohlgeboren anheimzustellen, nun mehr zu entscheiden, ob
die angebotene Stellung Ihnen annehmbar erscheine, und zu ersuchen, mir die
definitive Entscheidung hierüber mit möglichster Beschleunigung zukommen zu
lassen.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Eurer Wohlgeboren
Ergebener
Graf Leo
Thun