Friedrich Maassen an Leo Thun
Innsbruck, 18. April 1860
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Regest

Der Rechtshistoriker Friedrich Maassen berichtet Leo Thun erneut über den Erfolg seiner sechsmonatigen Studienreise in Frankreich. In den Bibliotheken in Paris fand er eine Fülle von Quellen für die Geschichte der vorgratianischen Quellensammlungen des kanonischen Rechts, die er nun, wieder nach Innsbruck zurückgekehrt, verarbeiten und publizieren will.

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Schlagworte

Edierter Text

<Auch Herrn Prof. Feßler mitzutheilen.>1

Eure Excellenz!

Am 7. April bin ich nach sechsmonatlicher Abwesenheit wieder in Innsbruck eingetroffen.
Als Eurer Excellenz ich gegen Ende Januar über die bis dahin gewonnene Ausbeute meiner Pariser Nachforschungen gehorsamst Bericht zu erstatten mir die Ehre gab,2 hatte ich meine Arbeit für die Zeit von der Mitte des XII. Jahrhunderts bis zum Ausgang des Mittelalters abgeschlossen und damit begonnen für die Geschichte der vorgratianischen Quellensammlungen des canonischen Rechts Material aufzusuchen. Da die Kataloge für die Handschriften von Quellen des frühern Mittelalters noch weniger genaue und zuverlässige Angaben enthielten als für die spätere Zeit, so blieb nichts andres übrig, als daß ich jede Angabe, die nur entfernt auf eine mit meinem Zweck verwandte Spur zu führen schien, für wichtig ansah. Auf diese Weise war es nicht zu vermeiden, daß mir mancher Codex unerheblichen oder doch mit meiner Aufgabe gar nicht in Zusammenhang stehenden Inhalts durch die Hänge ging – es sind Tage vorgekommen, wie ich mir zwanzig und mehr Manuscripte geben lassen mußte; aber ich habe dafür auch höchst interessante und kostbare Sachen gefunden. Allerdings haben gelehrte Franzosen des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, Justeau, Baluze, Quesnell, namentlich aber einzelne Mauriner, die reichen handschriftlichen Schätze der jetzt in der Bibliothèque impériale vereinigten Bibliotheken für die vorgratianische Zeit schon mehrfach benutzt. Aber seit mehr als hundert Jahren ist in Frankreich so gut wie nichts auf diesem Gebiet geschehen. Inzwischen ist aber das für die Behandlung dieses Gegenstandes epochenmachende Werk der Gebrüder Ballerini, zweier Veroneser Priester, De antiquis canonum collectionibus et collectoribus3 erschienen, welches mit musterhaftem kritischem Scharfsinn und vortrefflicher historischer Combinationsgabe die auf den Hauptbibliotheken Italiens , namentlich aber in der Vaticana, befindlichen Schätze für diesen Zweck fruchtbar gemacht hat. Dadurch sind ganz neue Gesichtspunkte eröffnet worden, große Irrthümer der frühern berichtigt, Fragen als wichtig in den Vordergrund gestellt, an die jene gelehrten Franzosen noch gar nicht gedacht haben. Es konnte daher nicht ausbleiben, daß in Paris noch eine reiche Nachlese zu halten war. Die Pariser Bibliothek ist, was Hülfsmittel für die ältere Geschichte des canonischen Rechts betrifft, wenn auch vielleicht nicht auf gleicher Stufe mit der Vaticana stehend, doch jedenfalls die erste nach ihr. Das für die vorgratianische Zeit gewonnene neue Material ist so erheblich, daß ich in den Stand gesetzt bin, diesen Abschnitt ausführlicher und eingehender zu behandeln, als ich früher beabsichtigte.
Haben Eure Excellenz die Huld zu gestatten, daß ich einige der mir am wichtigsten scheinenden Punkte anführen darf.
Die vor das VIII. Jahrhundert fallenden Sammlungen gallischen und italischen Ursprungs waren neben dem Interesse, welches die Anordnung und der Inhalt jeder alten Sammlung an und für sich hat, mir insbesondere wichtig, insofern sie neue Gesichtspunkte für die Geschichte der verschiedenen Versionen der alten griechischen Concilien boten. Ich habe von diesen Sammlungen, von denen die älteste in einem Manuscript des VI. Jahrhunderts erhalten ist, eine möglichst genaue Beschreibung mitgenommen. Von den Canonen der vier allgemeinen Concilien fand sich je eine bisher unbekannte Version; das Concil von Nicäa in der ältesten in Gallien vorkommenden, die man auf dem zweiten Concil von Arles (Mitte des V. Jahrhunderts) benutzte. Die Ballerini haben auf italienischen Bibliotheken vergeblich danach gesucht.
Für die Geschichte der Sammlungen spanischen Ursprungs bot kein unbedeutendes Interesse der Fund einer Collection in 10 Büchern, die gegen Ende des VII. Jahrhunderts vor dem Concil von Toledo verfaßt ist. Auf ihre Existenz konnte man wohl aus den in Handschriften der Hispana vorkommenden sog. Excerpta canonum schließen, eine Handschrift derselben war aber bisher nicht bekannt. Da sich diese Sammlung in zwei Exemplaren, einem Codex des IX. und einem des XI. Jahrhunderts fand, die bis auf unwesentliche Punkte miteinander übereinstimmten, so war die Möglichkeit gegeben, über die ächte Gestalt eine einigermaßen sichere Ansicht zu begründen.
An Handschriften der von Hadrian I. an Karl den Großen überreichten Sammlung, der sog. Dionysio-Hadriana, sind die französischen Bibliotheken vorzugsweise reich, da dieselbe längre Zeit hindurch im Frankenreiche eines fast ausschließlichen Ansehens genoß. Es fanden sich aber auch mehrere Exemplare des reinen Dionysius.
Für die Sammlung des falschen Isidor habe ich nicht weniger als 11 Handschriften benutzt. Einige von ihnen sind schon von Camus in den Notices et extraits de la bibliothèque nationale, aber ungenügend beschrieben. Die Mehrzahl dagegen war bisher ganz unberücksichtigt geblieben, darunter eine Handschrift, die älter als die berühmte vaticanische N. 630 – der Päpstekatalog endigt mit Benedict III. (†858) – und in mehrfacher Beziehung höchst interessant ist.
Von großer Bedeutung für die Geschichte der wechselseitigen Beziehungen des römischen und canonischen Rechts war es mir in einer Handschrift des X. oder XI. Jahrhunderts aus St. Germain eine Lex Romana canonice compta, wie sie in der Überschrift der einzelnen Blätter heißt oder Capitula legis Romanae ad canones pertinentia, wie die erste Überschrift lautet, zu finden. Dieses Stück hat Savigny, für dessen Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter seine Kenntnis von großer Wichtigkeit gewesen wäre, nur deshalb entgehen können, weil die Handschrift lediglich mit Rücksicht auf ihren übrigen, canonistischen Inhalt im Katalog aufgeführt ist.
Was die systematischen Sammlungen betrifft, so habe ich unter andern Manuscripte der Collectio Anselmo dedicata, der Collectio trium partium, der Sammlung Anselms von Lucca, der Cäsaraugustana und Polycarp’s benutzt. Von der Sammlung des heiligen Anselm fand sich die alte, vorzügliche, verloren geglaubte Handschrift von St. Germain wieder. Da sie wesentlich von den Exemplaren aus späterer Zeit abweicht, so habe ich ein Verzeichnis ihres Inhalts mitgenommen. Diese Sammlungen sind sämmtlich ungedruckt. Mit den zahlreichen Handschriften der bereits gedruckten Pannormie Ivo‘s von Chartres war es möglich den ursprünglichen Inhalt von späterm Zusatz zu unterscheiden. Von dem ebenfalls gedruckten Decret Ivo’s fanden sich zwei Handschriften. Was sich daraus und aus mehreren Handschriften von Auszügen des Decrets für oder gegen die Autorenschaft Ivo’s ergab, wurde angemerkt. Die Sammlung Burchard’s von Worms mußte ich, weil die Zeit zu Ende ging, zurücklassen. Da sie in verschiedenen Auflagen gedruckt ist und überdies handschriftlich auch auf deutschen Bibliotheken mehrfach vorkommt, so ist der Schaden nicht groß.
Eure Excellenz wollen aus diesem und meinem frühern ehrerbietigsten Bericht huldvollst zu ermessen geruhen, wie reiche Ausbeute die Pariser Bibliothek für meinen Zweck geliefert hat. Was ich nicht minder hoch anschlage als die mancherlei neuen Entdeckungen, die bei consequentem Suchen sich von selbst ergeben mußten, ist, daß ich jetzt bis zu einem gewissen Grade doch ein Ganzes habe, wenn auch viele Lücken noch vorhanden sind; während ich vor meiner Reise nach Paris nur im Besitz von Einzelheiten mich befand.
Für die Veröffentlichung der gefundenen neuen Thatsachen ließen sich zwei Wege denken. Entweder ich machte sie successive in kleineren Abhandlungen bekannt. Mancher für die Geschichte des Rechts im Mittelalter nicht unerhebliche Gesichtspunkt würde auf diese Weise früher wissenschaftliches Gemeingut. In dem die eigentliche Aufgabe bildenden Werk würden diese Einzelheiten dann in einem größern Zusammenhang wieder vorkommen. Oder ich verspare auf die erste Mittheilung für das Werk selbst. Ich ziehe den letztern Weg vor. Auf die zuerst erwähnte Weise würde ich um Lust und Frische für die Hauptaufgabe und das Buch um ein wesentliches Stück objectiven Interesses gekürzt werden. Ich werde daher jetzt damit beginnen, für den ersten Theil mir das gewonnene Material zusammen zu stellen und, soweit es mit der hiesigen Bibliothek möglich ist, zu verarbeiten. Ich kann dann am besten die noch vorhandenen Lücken erkennen.
Meine Reise war bis ganz zuletzt mit Gottes Hülfe eine sehr glückliche. Ich bin immer gesund gewesen, so daß ich buchstäblich nicht einen Tag mit Arbeiten ausgesetzt habe; die gemachte Ausbeute ist größer, als ich nur entfernt zu hoffen gewagt hatte; von meiner Familie hatte ich immer gute Nachrichten. Das Ende aber war für mich ein sehr trauriges. Ich sollte mein jüngstes, vier Wochen vor meiner Abreise geborenes Kind nicht wiedersehen.
Nach ganz kurzer Krankheit war es vor meinem Eintreffen gestorben. So hat Gott in Seiner Weisheit auch dafür gesorgt, daß ich nicht in Versuchung käme übermüthig zu werden.
Eurer Excellenz wiederhole ich auf’s neue meinen unbegränzten Dank für hochdero huldvolle Förderung meines wissenschaftlichen Unternehmens und beharre in tiefstem Respecte

Eurer Excellenz

ehrerbietigster
Dr. Maaßen

Innsbruck, 18. April 1860