Der Jurist Karl Röder gratuliert Minister Thun zur Reform der österreichischen Universitäten und der juridischen Studien, und legt ihm seine Ansichten zur Situation der Rechtswissenschaften im Allgemeinen dar. Er freut sich, dass nun auch in Österreich die rechtshistorischen Studien gefördert werden und damit auch in Österreich ein allgemeiner Aufschwung der Rechtswissenschaften zu erwarten sei. Denn ein solcher Aufschwung könne aus Röders Sicht nur über das Studium der historischen Quellen des geltenden Rechts erreicht werden, was auch das deutsche Beispiel verdeutliche. Er hat darüber ein kleines Buch geschrieben, das er Thun mit diesem Brief überreicht. Außerdem ist Röder davon überzeugt, dass durch den Aufschwung der Rechtsgeschichte und die Erforschung der historischen Basis des Rechts jede spekulative und gefährliche Rechtsphilosophie von alleine ihrer Grundlagen beraubt werde, und die Rechtsphilosophie daher auch keine Gefahr mehr ausüben könne. Erst in einer organischen Verbindung der beiden Fächer, so glaubt Röder, werde sich eine wahre Rechtsphilosophie entfalten. Dies wird in Österreich noch schneller der Fall sein, weil dort der Einfluss von Hegel, Kant, Herbart und Stahl nie so groß war. Erste Anzeichen dafür sieht er auch schon in der jüngsten Veröffentlichung von Anton von Hye. Daher bedauert Röder, dass die Rechtsphilosophie vollkommen aus den Prüfungsfächern der Staatsprüfung entfernt worden ist und regt an, diese Maßnahme zu überdenken.
Der Brief wurde im Nachlass unter einer eigenen Signatur abgelegt, er ist jedoch eigentlich eine Beilage zum Brief von Hermann Leonhardi an Leo Thun. Prag, 07. März 1855, mit der Signatur A3 XXI D331.
Hochgeborener Graf!
Eurer Exzellenz hohes Verdienst um die heilsame Umgestaltung, die das
Unterrichtswesen der Hochschulen Oestreichs
erfahren hat, wird wohl nirgends ungetheiltere Anerkennung gefunden haben als in
Deutschland, wo man allgemein die Überzeugung hegt, daß
damit ein ganz entscheidender Schritt vorwärts geschehen ist. Namentlich aber
begrüßten Alle, denen die Rechtswissenschaft am Herzen liegt, mit Freude den
hoffnungsreichen Umstand, daß unter den Auspizien Eurer Exzellenz der Erwerb
einer gründlichen Kenntnis auch der Quellenrechte, woraus wie alle neueren
Gesetzgebungen, so auch das bürgerliche Gesetzbuch Oestreichs geschöpft ist,
endlich die gebührende Würdigung gefunden hat und daß in diesem Sinn das Nöthige
verfügt ward, damit sich nicht ferner behaupten lasse, die durchschnittliche
Bildung der Juristen Oestreichs sei weniger
gediegen als die der meisten deutschen und zumal preußischen Juristen. Denn wenn
dieß bisher, wie es scheint, der Fall gewesen ist, so kann die Ursache wohl nur
darin gesucht werden, daß in Preußen und dem
übrigen Deutschland jederzeit genaue Bekanntschaft nicht nur
mit der Landesgesetzgebung, sondern zugleich mit dem römischen und germanischen
Recht, für die Staatsprüfungen gefordert worden ist.
Die kleine Schrift1, die ich hierbei
Eurer Exzellenz zu überreichen wage, hat zunächst die Bestimmung, den Weg ebnen
zu helfen für ein solches tieferes Verständnis beider Hauptrechte, wie es nur
durch das Zurückgehen auf deren Grundgedanken möglich zu sein scheint; denn
daran hat es auch bei uns bisher noch gar sehr gefehlt und ebendarauf zielen
ohne Frage auch die einschlagenden neueren östreichischen Verordnungen.
Von
dem Augenblick an aber, wo im Geist dieser Verordnungen gründliche
rechtswissenschaftliche Quellenstudien auf den östreichischen Hochschulen
heimisch geworden sein werden, durfte man meines Erachtens überzeugt sein, daß
auch nicht ein Schatten von Gefahr selbst von falschen, abstrakten Richtungen
der Rechtsfilosofie zu befürchten sei, da durch jene geschichtlichen
Rechtsstudien ebenso auch dort, wie es bei uns der Fall war, alle dergleichen
Fehlrichtungen unfehlbar ganz von selbst in ihrer völligen Blöße erscheinen
mußten. In Folge dessen ließ sich aber mit Bestimmtheit der Sieg jener besseren,
wahrhaft organischen rechtsfilosofischen Lehre voraussehen, die gerade in
Oestreich schon jetzt weit stärker
vertreten ist als in Deutschland, wo man noch immer
großentheils an den Nachwehen der Abstraktionen des Kantischen Formalismus leidet, hie und da
auch wohl der Hegel‘schen Dialektik oder Herbart’schen Atomistik, und nur von Stahl‘s protestantischem
Scholastizismus sich ziemlich frei gehalten hat; wo daher begreiflich die
Rechtsfilosofie von der Mißachtung, in die sie, dieser einseitigen
Behandlungsweise halber, zufolge des Aufschwungs der historischen Rechtschule,
hatte fallen müssen, sich noch immer nicht ganz erholen konnte.
Ebendarum
und weil, wie auch ein östreichischer Gelehrter, der k.k. Ministerialrath
Hye (im Kommentar zum
östreichischen Strafgesetz, 8. Lieferung S. 737 Anmerkung ) soeben ausgeführt
hat, nur von dem Bunde echt geschichtlicher mit echt filosofischen Lehren Großes
zu hoffen ist, zumal auf einem gewissermaßen jungfräulichen Boden, erschien es
nicht Wenigen in und außer Oestreich als ein bedenklicher und überdieß
vielfacher Mißdeutung – zumal von Seiten der Studirenden – ausgesetzter Schritt,
daß die Rechtsfilosofie dort neuerlich aus den Gegenständen der Staatsprüfung
ausgestrichen worden ist; – ein Schritt, der schwerlich bloß die gute Folge
haben wird, die Hörsääle der schlechten Lehrer zu veröden, und den man selbst in
Deutschland, wo doch, wie gesagt, sogar die schlechte
Lehre vorherrschend war, immer zu thun Anstand nahm. So wenig aber die dabei
unterliegende gute Absicht sich verkennen ließ, so blieb doch für den gehorsamst
Unterzeichneten kein Zweifel übrig, daß in diesem einen Punkt die weise
angebahnte Reform der Rechtsstudien ein wesentliches Hindernis finden müsse, da
nach seiner festen Überzeugung gerade in einer gesunden filosofischen Lehre von
Recht, Staat und Gesellschaft nicht bloß der eigentliche Einheit- und
Mittelpunkt der ganzen Rechts- und Staatswissenschaft liegt, sondern auch das
Hauptmittel gründlicher Bekämpfung der meisten und gefährlichsten krankhaften
Zeitansichten. Um so weniger glaubte er unterlassen zu dürfen, auf S. 25 sein
Bedauern auszusprechen, daß man auf diese Art in Oestreich einer Schattenseite des deutschen Hochschulwesens, der
herkömmlichen großen Vernachlässigung rechtsfilosofischer Studien, den Schein
eines Vorzugs gegeben und für die Zukunft einer gleichen Vernachlässigung auch
in Oestreich wenigstens mittelbar einen Vorwand geliehen habe, den man ihr, wie
er aufs Lebhaftetste wünscht, nicht immer lassen wird.
Schließlich gebe ich
mich der Hoffnung hin, daß Eure Exzellenz diesen freimüthigen Ausdruck meiner
Überzeugung um der Sache willen, der ich damit zu dienen glaube, mir zu Gut
halten und den Grund dieser Offenheit nur in der aufrichtigsten Huldigung und
Verehrung finden möchten, womit ich zu zeichnen die Ehre habe
Eurer Exzellenz ganz gehorsamster
Prof. Dr. K. Röder
Heidelberg den 7. Februar 1855