Ludwig Lange an Leo Thun
Prag, 28. April 1859
|

Regest

Der klassische Philologe Ludwig Lange teilt Leo Thun mit, dass er einen Ruf an die Universität Gießen angenommen hat, und er erklärt dem Minister die Gründe für diesen Schritt. Wesentlich für seine Entscheidung waren nicht finanzielle Motive, sondern vielmehr die ehrenvollere Stellung in Gießen. Dies betreffe einerseits das höhere Ansehen, das die Philologie an deutschen Universitäten genieße, andererseits besäßen dort die Professoren das Promotionsrecht und nicht wie in Prag das Doktorenkollegium. In diesem Zusammenhang kritisiert er sowohl die überholte Rigorosenordnung als auch die Beibehaltung des Doktorenkollegiums. Dieser Missstand führe zur untergeordneten Stellung der Philologie innerhalb der anderen philosophischen Disziplinen und folglich zu einer geringen Wertschätzung derselben. Lange versichert den Minister auch, dass die Frage seiner Konfession nicht ausschlaggebend für seinen Entschluss gewesen war. Trotz der Zurücksetzungen als Protestant in Bezug auf die Rektors- und Dekanswahl habe er sonst keinen Anlass zu Klagen in dieser Hinsicht. Hingegen habe der ständige Konflikt mit Constantin Höfler großen Einfluss auf die Entscheidung gehabt. Lange bittet abschließend um Verständnis für seine Entscheidung und erklärt sich bereit, nötigenfalls bis zum Ende des Sommersemesters in Prag zu bleiben.

Anmerkungen zum Dokument

Schlagworte

Edierter Text

Hochgeborner, hochzuverehrender Herr Minister!
Euer Excellenz!

Am 21. April erhielt ich durch Vermittlung des Kanzlers der Universität Giessen [Gießen] die Nachricht, daß Seine k. Hoheit der Großherzog von Hessen meine Berufung für die in Giessen erledigte ordentliche Professur der classischen Philologie, verbunden mit dem Directorate des philologischen Seminars, genehmigt habe. Zugleich forderte mich der Kanzler auf, mich rücksichtlich der Annahme dieses Rufes definitiv baldmöglichst zu erklären. Da ich mich schon während der vertraulichen Unterhandlungen, die der Kanzler seit dem 22. März mit mir führte, entschlossen hatte, diesem Rufe Folge zu leisten, so habe ich am 23. April dem Kanzler gemeldet, daß ich den Ruf, vorbehaltlich meiner Entlassung aus k.k. Staatsdienste, annehme. Gleichzeitig habe ich mein officielles Entlassungsgesuch bei dem Decanate unserer Facultät eingereicht.
In dem officiellen Entlassungsgesuche konnte ich meine Gründe nur andeuten; um so mehr fühle ich, im Hinblicke auf alles Gute, was Euer Excellenz mir erwiesen, die zwar traurige, aber unabweisbare Verpflichtung, meine Gründe Euer Excellenz noch vor Ankunft meines officiellen Entlassungsgesuches offen darzulegen. Nur so darf ich hoffen, zu bewirken, daß Euer Excellenz meinen Schritt, wenigstens von meinem Standpuncte aus, erklärlich finden und mich nicht ohne Weiteres für undankbar halten. Es ist mir in der That schwer, recht schwer geworden, einen Entschluß zu fassen, der mich aus einer Wirksamkeit entfernt, die mir von Anfang an lieb gewesen und trotz einzelner Widerwärtigkeiten lieb geblieben ist.
Die mir in Gießen gebotene Stellung unterscheidet sich von meiner hiesigen in pecuniärer Beziehung dadurch, daß ich dort an Gehalt und Nebeneinnahmen ebenso viele Gulden Rhein. wie hier Gulden CM haben werde. Da es nun in Gießen ziemlich in demselben Verhältnisse wohlfeiler zu leben ist, so ist schwer zu sagen, ob ich die Berufung als eine pecuniäre Verbesserung oder Verschlechterung ansehen soll. Ich erwähne diese materielle Seite der Sache nur, um Euer Excellenz zu sagen, daß sie nicht bestimmend auf meinen Entschluß eingewirkt hat. Wenn ich in der Lage wäre, mich durch pecuniäre Vortheile bestimmen lassen zu müssen, so würde eine Bitte von mir, wegen Ablehnung des Rufes meine hiesige Stellung zu verbessern, von Euer Excellenz vielleicht nicht ungnädig aufgenommen worden sein. So habe ich diese Bitte nicht wagen wollen, weil die für mich entscheidenden Gründe in ganz andern Verhältnissen liegen, um deren Änderung zu bitten Anmaßung wäre.
In amtlicher Beziehung unterscheidet sich die Stellung in Gießen vortheilhaft von meiner hiesigen namentlich dadurch, daß ich das Recht der Promotion und die Pflicht, die Universitätsprogramme zu schreiben, haben werde. Letzteres ist an allen deutschen Universitäten Ehrensache der classischen Philologie und, wenn an den österreichischen Universitäten eine ähnliche Einrichtung bestände, so würde dieselbe gewiß dazu beitragen, die Achtung vor der classischen Philologie zu erhöhen. Das Interesse für mein Fach, nicht persönlicher Ehrgeiz, ist es auch, wenn es mich mit Mißbehagen erfüllt, von den Doctorpromotionen hier ausgeschlossen zu sein. Daß alle Professoren der philosophischen Facultät, sofern sie nicht zufällig auch Mitglieder des Doctorcollegiums sind, von den Promotionen ausgeschlossen sind, ist Folge der mindestens sonderbaren Stellung, die das Doctorcollegium der philosophischen Facultät einnimmt, während in der juridischen Facultät das Verhältnis weit besser geordnet ist, indem alle ordentlichen Professoren, auch wenn sie nicht Mitglieder des Doctorcollegiums sind, promovieren. Nach meiner festen Überzeugung erfordert das Interesse der Wissenschaft, daß das philosophische Doctorcollegium mit den Promotionen möglichst wenig zu thun hat, es erfordert das Interesse der Philologie, daß die Professoren der Philologie als Professoren der philosophischen Facultät, nicht etwa als Mitglieder einer überlebten und lebensunfähigen Corporation, das Recht der Promotion haben. So ist es gleichfalls gegen das Interesse der Philologie, daß wissenschaftliche Tüchtigkeit auf dem Gebiete der Philologie, selbst gediegene literarische Leistungen, keinen Anspruch auf das Prager philosophische Doctorat geben. Dasselbe wird auf Grund einer Rigorosenordnung erworben, welche aus den Zeiten stammt, in denen die philosophische Facultät zwischen der lateinischen Schule und den 3 sogenannten höheren Facultäten stand, und welche ebenso wenig für die jetzige Wissenschaft und den Geist der neuen Studienorganisation paßt wie das Verhältnis des Doctorencollegiums zur Facultät. Euer Excellenz werden es begreiflich finden, daß ich diese Zustände nicht billige, und daß ich es als einen drückenden Mißstand ansehe, wenn zu einer Zeit, in der ¾ aller Hörer der philosophischen Facultät Philologie studieren, die Studierenden unfähig sind, auf Grund ihrer philologischen Studien das Doctorat zu erwerben und die beiden ordentlichen Professoren der Philologie unberechtigt sind, dasselbe zu ertheilen. Die Folge dieses Mißstandes ist es, daß Leute, die den Werth der Philologie nicht kennen, aus der untergeordneten Stellung des Faches im Kreise der philosophischen Disciplinen und aus der nicht vollberechtigten Stellung seiner Vertreter auf den Werth des Faches schließen; Nahrung findet diese Beurtheilungweise in dem leider weitverbreiteten, wenn auch unbegründeten Glauben, daß die Anstrengungen zur Wiederaufhebung der von Euer Excellenz eingeführten Gymnasialorganisation und somit zur Schwächung des Studiums der Philologie auf den Universitäten, schließlich zu ihrem Ziele gelangen würden und in der daraus entspringenden Unsicherheit schwacher Menschen, die eine Sache, welche der eifrigsten Durchführung und voller Hingebung bedarf, um zu gedeihen, bereits für halb verloren halten und demgemäß nur lau oder gar nicht unterstützen.
Euer Excellenz werden mir zugeben, daß die Stellung, die ich in Gießen einnehmen soll, im Vergleich mit meiner hiesigen sowohl gesicherter als auch ehrenvoller ist; aber Euer Excellenz werden es vielleicht tadeln, daß ich mich dadurch bestimmen lasse. Wenn ich die zuversichtliche Hoffnung haben könnte, daß Euer Excellenz stets an der Spitze der Unterrichtsangelegenheiten bleiben würden, so würden mich jene Rücksichten auch nicht bestimmen. Ich würde dann die unerschütterliche Überzeugung haben, daß alle Mißverhältnisse im Laufe der Zeit würden behoben werden; ich würde es in diesem Falle für eine größere Ehre halten, durch Kämpfe und unverdiente Mißachtung hindurch meinen besseren Zustand nach Kräften anbahnen zu helfen und einen, wenn auch bescheidenen, Antheil an dem schließlichen Siege der guten Sache zu haben, als unter glatten und geebneten Verhältnissen in äußerlich ehrenvollerer Stellung zu wirken. Aber – Euer Excellenz werden es mir verzeihen, wenn ich an die Möglichkeit eines Nachfolgers des Grafen Leo Thun nur mit Furcht denken kann. Es ist dies nicht gewöhnliche Menschenfurcht, von der ich mich vielmehr ziemlich frei weiß, sondern die Befürchtung, daß die Philologie in Oesterreich dann wieder aus der Reihe der Wissenschaften gestrichen werden, ein philologischer Universitätsprofessor also ganz überflüssig werden könnte.
In Gießen werde ich ferner im Vorzuge vor meiner hiesigen Stellung Mitglied des weiteren Senates und wählbar zum Rectorate sein, sowie ich auch auf das Decanat nach der Anciennität Rechtsanspruch haben werde. Daß ich die entsprechenden Rechte hier nicht habe, darin liegt nicht eine Zurücksetzung der Philologie, sondern meiner Confession. Ich erwähne dieses nur, um sofort hinzuzufügen, daß mich diese Zurücksetzungen, die ich mit andern ehrenwerthen Männern theile, nicht im Geringsten bestimmt haben oder bestimmen würden. In der sicheren Überzeugung, daß die Verhältnisse der Protestanten einer gerechten Regelung entgegensehen, und daß der Charakter der Universitäten als Staatsanstalten immer ungetrübter anerkannt werden wird, hätte ich jene Zurücksetzungen um so leichter verschmerzt, als die Functionen der Decane und des Rectors sowie die Sitzungen des Senates in seiner gegenwärtigen Composition nichts weniger als verlockend für mich sind. Freilich kann es verletzend sein, wenn wissenschaftlich unbedeutende Leute mit der Bekleidung jener sorgenannten Würden sich brüsten und mitleidsvoll auf uns Protestanten herabsehen. Aber ich habe doch andererseits soviel Gerechtigkeitsgefühl in der Beurtheilung confessioneller Verhältnisse gefunden, daß es unrecht wäre, wenn ich confessionelle Klagen anstimmen wollte. Ja ich habe sogar die Freude gehabt als Mitglied des Vorstandes der deutschen evangelischen Gemeinde A.C. in Prag, in einem Falle bei Euer Excellenz, in einem andern bei der k.k. Statthalterei, die Interessen und die gesetzlich anerkannten Rechte der Evangelischen Einwohner Prags mit Erfolg zu vertreten. Ich bedauere sogar sehr, durch meine Berufung nach Gießen in die Lage gekommen zu sein, die für mich sehr ehrenvolle, am 27. März stattgefundene Wiederwahl zum Vorsteher jener Gemeinde (mit 157 gegen 23 Stimmen) ablehnen zu müssen. Denn es ist mir neben manchen trüben persönlichen Erfahrungen hier eine große Genugthuung gewesen, das Vertrauen der ganzen Gemeinde mit Ausnahme der sehr zusammengeschmolzenen Parteigänger einer friedensstörerischen Partei mir dadurch erworben zu haben, daß ich eifrig bestrebt war, den seit 1850 gestört gewesenen Frieden im Innern der Gemeinde wieder herzustellen.
Von großem Einfluß auf meinen Entschluß sind dagegen die eben angedeuteten trüben persönlichen Erfahrungen gewesen. Auch darüber gestatten mir Euer Excellenz, mich offen auszusprechen. Kaum 6–7 Wochen war ich hier, als in einer Sitzung der Prüfungscommission (Juni 1855) mir die Differenz zwischen Prof. Höfler und mir klar wurde. Es handelte sich um Interpretation eines ganz deutlichen Ministerialrescripts rücksichtlich der Frage, ob Schleicher oder Höfler alle Candidaten in deutscher Literatur zu examinieren habe. Ich unterstützte Schleicher, der unzweifelhaft Recht hatte. Dennoch wurde das Ministerium um eine Aufklärung des angeblich dunkeln Passus ersucht, das darauf erfolgende wiederum unzweideutige Ministerialrescript wurde wiederum im Interesse Höflers mißverstanden; das Protokoll aber der Sitzung vom Juni 1855, welches erst am 21. Nov. [18]55 zur Unterschrift vorgelegt wurde, enthielt die Entstellung des wahren Sachverhaltes, die ich nachwies und gegen die ich protestierte.
Daß Schleicher und ich im Rechte gewesen waren, bewies ein drittes Ministerialreskript (1856), welches Schleichers Recht auf eine für Niemanden mehr zweifelhafte Weise aussprach. Leider war Schleicher, als dieses Dekret herabgelangte, durch dieses und ähnliche Widerwärtigkeiten bereits so entmuthigt, daß er fest entschlossen war, den ersten besten Ruf anzunehmen, was er dann auch vor 2 Jahren that. Ich wußte durch jenen Vorfall genau, wie ich mich gegen Prof. Höfler zu verhalten hatte und habe meine damaligen Erfahrungen mehrfach bestätigt gefunden. Doch tadelte ich Schleicher, daß er sich durch persönliche Widerwärtigkeiten bestimmen ließ, eine Wirksamkeit aufzugeben, in der Euer Excellenz ihn gern sahen. Aber ich ahnte damals nicht, bis zu welcher Höhe sich diese Widerwärtigkeiten steigern, und wie sie alle Lust am Leben in Prag, alle Freudigkeit an einem sonst lieben Berufe vergällen können. Mehrfach habe ich seitdem Conflicte mit Prof. Höfler gehabt, am Schlimmsten, als ich meinen Collegen Kelle gegen einen gemeinen Journalistenangriff vertheidigte und Höfler diese Vertheidigung durch eine sonderbare Complication der Umstände (um mich so milde als möglich auszudrücken) für einen Angriff auf sich anzusehen für gut fand. Euer Excellenz bin ich aufrichtig dankbar für die Art, wie Hochdieselben diesen Conflict schließlich erledigt haben. Aber schon damals stand mein Entschluß fest, Prag zu verlassen, wenn ich einen an sich betrachtet ehrenvollen Ruf erhielte. Dieser Entschluß konnte nur bestärkt werden, wenn ich nachträglich erfuhr, daß im Publikum verbreitet worden sei, ich sei in jenem Conflicte unterlegen. Erst ganz kürzlich mußte ich erfahren, daß 2 meiner Freunde vor dem Umgange mit mir gewarnt worden sind, weil ich so sehr verhaßt sei. Ich bin mir bewußt, da ich sehr zurückgezogen lebe, diesen Haß, der nur durch Verleumdungen entstanden sein kann, nicht zu verdienen, aber ich kann ihn auch nicht beseitigen, da ich die Kunst nicht verstehe, mich bei einem zum großen Theile in moralischer und in intellectueller Hinsicht urtheilslosen, von Literaten und Journalisten beherrschten Publikum der Verleumdungen zu erwehren oder mich gar beliebt zu machen. Da die wissenschaftliche Atmosphäre, welche auf jeder, auch der kleinsten deutschen Universität geisterheischend und muthbelebend weht, hier theilweise ganz fehlt, theilweise durch afterwissenschaftliche Tendenzen verunreinigt ist, so werden Euer Excellenz begreifen, daß von meinem Standpuncte aus Gießen einen kaum berechenbaren Vorzug vor Prag besitzt.
Endlich darf ich noch einen Umstand nicht verschweigen. Meine in Hannover lebende Mutter ist alt, mein einziger Bruder seit zwei Jahren kränklich. Es ist meiner Mutter von großem Werthe, mich in größerer Nähe zu wissen und leichter nach Hannover citieren zu können, als dies von Prag aus möglich ist. Dieser Gesichtspunct würde freilich nicht entscheidend sein können, wenn ich den Werth der Stellen nach der Höhe des Gehaltes beurtheilen müßte. Da ich es aber dem Fleiße und der Sparsamkeit meiner Eltern verdanke, meine Entschlüsse frei von Rücksichten auf materiellen Vortheil treffen zu können, so bin ich eben deshalb um so mehr in meinem Gewissen verpflichtet, die Wünsche meiner Mutter zu respectieren.
Euer Excellenz kennen nun mehr meine Beweggründe, und ich hoffe, daß ich wenigstens nicht unbesonnen oder undankbar zu handeln scheinen werde. Ich wünschte wahrlich, die Verhältnisse wären so, daß ich durch die That die aufrichtige Dankbarkeit kundgeben könnte, die ich gegen Euer Excellenz fühle!
Rücksichtlich des Zeitpunctes meiner Entlassung habe ich in dem officiellen Gesuche keinen bestimmten Wunsch ausgesprochen, auch nicht nach Gießen eine bestimmte Zusage ertheilt. Ich stelle mich in dieser Beziehung Euer Excellenz zur Verfügung, da ich, obwohl man in Gießen dringend wünscht, daß ich sofort komme, es für eine freudig zu erfüllende Pflicht halte, bis gegen Ende des Sommersemesters zu bleiben, falls Euer Excellenz dies befehlen.
Ich wage nicht, Euer Excellenz um eine ausdrückliche Erklärung Ihrer Zufriedenheit mit meiner Wirksamkeit zu bitten, so werthvoll mir dieselbe sein würde. Wenn aber Euer Excellenz mich, wie früher den Prof. Curtius, auffordern lassen wollten, mich vor meinem Abgange gutachtlich über die Wiederbesetzung der Professur zu äußern, so würde ich darin den Beweis erblicken, daß Euer Excellenz meinen Schritt wenigstens entschuldigen.
Mit tiefster Ehrerbietung und unwandelbarer Hochachtung verharre, hochgeborner, hochzuverehrender Herr Minister

Euer Excellenz und Hochgräflichen Gnaden

ergebenster
Dr. Ludwig Lange

Prag, 28. April 59