Karl Wolkenstein an Leo Thun
Brunnersdorf, 24. November 1851
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Regest

Karl Wolkenstein kommt der Aufforderung Leo Thuns nach, sich zur Eherechtsfrage zu äußern. Zuvor gibt er aber zu bedenken, dass er weder Jurist noch Kanonist sei und so kein gebührendes Urteil abgeben könne. Seine Ansichten über die Eherechtsfrage leitet er aus zwei grundsätzlichen Überzeugungen ab: Zunächst steht für ihn fest, dass der Staat nicht die Herrschaft über alle sittlichen und materiellen Belange seiner Bürger haben könne. Wolkenstein glaubt, dass der Staat sich damit Aufgaben aufbürde, die er nicht erfüllen könne und damit bloß weiter an Ansehen verlieren werde. Wolkenstein zufolge sollte sich der Staat in dieser Frage daher zurückhalten und das Feld des Eherechts der Kirche überlassen. Zudem ist Wolkenstein der grundsätzlichen Überzeugung, dass Österreich wieder stärker ein katholischer Staat werden solle. Auch deshalb sei die kirchliche Autorität in Fragen des Eherechts wiederherzustellen. Schließlich spricht Wolkenstein seine Hoffnung aus, dass durch die Kraft der katholischen Kirche und des Glaubens auch das Ansehen des Staates wieder zunehmen werde.

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Edierter Text

Werthester Freund!

Ich habe gestern Nachmittag Deinen Brief vom 18. dieses Monats samt Beilagen erhalten und beeile mich, ihn umgehend zu beantworten.
Ich hielte es nicht für recht, wollte ich eine Aufforderung ablehnen, in einem Falle wie dem vorliegenden, meine geringen Kräfte zu Diensten zu stellen. Ich muß jedoch bemerken, daß ich überhaupt kein gelehrter Jurist, noch weniger ein Kanonist bin. Auch die Praxis both nur höchst selten Gelegenheiten auf den Gegenstand der Frage – das Eherecht – zurückzukommen, und so ist mein positives Wissen über diesen Gegenstand ein sehr mageres. Ob Du nun ein so qualificirtes oder nicht qualificirtes Individuum brauchen kannst – muß ich Deiner Beurtheilung anheimstellen. Du wirst daher auch vorderhand kein definitives Urtheil über die principielle Frage von mir erlangen, da ich diese bisher niemals zum principiellen Gegenstande meines Nachdenkens gemacht habe. Im Allgemeinen jedoch soviel. Es scheint mir einer der Grundirrthümer moderner Auffassung, daß man den Staat zum Herrn aller sittlichen und materiellen Belange machen wollte. Es ist diese Idee von jenen negativen Geistern ausgegangen, welche die Gesellschaft, wie sie in Europa bestand, zerstören und sich zu diesen Zwecke des Staates bedienen wollten. Damit der Staat den erwarteten Dienst leisten könne, mußte zuförderst die Idee seiner allesumfassenden Bedeutung und seiner Omnipotenz in diesem weiten Bereiche zum Gangbaren gemacht werden. Der Staat ging in diese Falle, der Köder schmeckte den eitlen Gewalthabern. Da kam nun der zweite Schritt zu thun. Jene negativen Geister mußten an Stelle der bisherigen Gewalthaber Herrn des Staates werden, der seinerseits der Herr aller Dinge war. An diesem zweyten Stadium laboriren wir derzeit.
Der Staat hat meines Erachtens weder Recht noch Beruf zu einer Herrschaft in solchem Umfange und solcher Intensität – schon darum nicht, weil er nicht die Mittel hat, die Aufgabe zu bewältigen, die er sich aufgehalst – wenigst in einem positiven Sinne nicht (im bloßen Zerstören mag er es weit genug bringen). Die Lügenhaftigkeit, welche den Staat Dinge versprechen läßt, die er nicht halten kann, hat ihn in Europa so sehr in Mißkredit gebracht, hat z. B. in Frankreich bis zum directen Hasse gegen die Staatsidee erbittert.
Wie beschränkt sind die Mittel des Staates auch nur in Bezug auf materielle Dinge. Man verspricht Reichthum, Wohlstand, Genüsse. Wie täuschend haben sich alle diese Beglückungstheorien bewiesen, wie unsicher zeigt man sich in den Mitteln und Wegen. Da soll es die Absperrung und der Zollschutz, dort der freie Commerz – heute das Zusammenhalten und morgen die Zersplitterung der Güter seyn etc.
Noch viel beschränkter sind seine Agentien, wo es sich um sittliche Belange handelt, und von dem ohnedies nicht allzureichen Vorrathe sittlich-politischer Motive als da sind Treue, Respekt, Unterordnung etc., wie viel hat man gerade in letzter Zeit muthwillig zerstört, so daß dem Staate außer dem militärischen Geiste nahezu nichts dergleichen mehr geblieben ist. Daß er sich in dieser Beziehung überhaupt und insbesondere heutzutage mit der Kirche nicht messen könne, scheint mir unleugbar. Wie weit der Staat seine Wirksamkeit an Umfang und Inhalt auszudehnen habe, darüber läßt sich ein allgemeines Maß wohl nicht feststellen. Anders ist dies in einem kleinen - anders in einem großen Reiche - anders da, wo eine natürliche gesellschaftliche Ordnung fast nicht mehr besteht, wie z. B. in Frankreich, anders dort, wo mehr oder minder lebensfähige Reste einer solchen vorhanden sind – anders da, wo eine kirchliche Gesellschaft neben dem Staate nur dem Namen nach besteht wie in protestantischen Ländern, anders dort, wo der unverwüstliche Organismus der katholischen Kirche neben dem Staate waltet – anders war es zur Zeit der Reformation, wo die Revolution gegen die Kirche gerichtet, diese zerrüttet und das weltliche Schwert nöthig war sie aufzurichten – anders heute, wo sich die Revolution gegen die politische Gesellschaft gekehrt, wo die sittlichen Träger des Staates hinfällig, wo die Rollen gewechselt, der Staat abgelebt in dem wieder erwachenden kirchlichen Leben einen Haltpunkt suchen muß.
Ich habe etwas weit ausgeholt – es scheint mir aber nicht unnöthig. Es handelt sich um die Frage, ob der Staat sich aus einem Gebiethe – das des ehelichen Verhältnisses – zurückziehen und dieses Gebieth der Kirche überlassen solle. Abgesehen von positiven Rechts- und Geschichtsmomenten – abgesehen von der Frage, ob Oesterreich sich auf den Standpunkt kirchlicher Indifferenz stellen dürfe, und letzteres angenommen, warum sollte er es nicht? Sind die Zwecke der Gesetzgebung über die Ehe und deren Handhabung besser erfüllt worden, seit der Staat solche in die Hand nahm? Wird es den Begriff der Heiligkeit der Ehe, des Familienbandes und alles dessen was daran hängt stärken, wenn nicht der religiöse, sakramentale Charakter, sondern der Moment des Vertrages als das Präcipuum hervortritt? Wenn nicht der Gewissensrichter, sondern derselbe Richter Recht spricht, der über Kauf und Verkauf, über Acker und Wiesen urtheilt? Hat der Staat eine bessere Gewähr, wenn er die Sache in die Hände seines – und insbesondere seines dermaligen Richterstandes – eines Elementes legt, in welchem dürrer Rationalismus und anderes Unwünschenswerthes vorherrscht – oder wenn sie an die Bischöfe und deren Räthe kurz an Elemente übergeht, in welchen unverkennbar ein besserer Geist, ein tieferes Verständnis der Dinge sich herausarbeitet.
Ja, hat der Staat auch in politischer Beziehung irgendetwas dabei zu verlieren, wenn der Wirkungskreis seiner Beamteten und hiemit ihr Einfluß ein beschränkterer und der des Clerus ein ausgedehnterer wird?
Ich bin weiters der Meinung, daß Oesterreich wieder ein katholisches Reich werden – der Geist des Katholizismus es durchdringen müsse. Mit diesem Postulate würde es geradezu unvereinbarlich seyn, der Kirche ein Gebieth so weit streitig zu machen, als sie es nach ihren wesentlichen Institutionen in Anspruch nehmen muß. Das katholische Oesterreich kann sich mit dem, was der Katholizismus fordert, nicht in Widerspruch setzen, ohne an seinem eigenen Fundamente zu rütteln – was übrigens allerdings in anderen Fragen ein vorherrschender Zug der modernen österreichischen Politik war – ob noch ist, weiß ich nicht.
Mit welcher Aussicht des Erfolges endlich möchte man sich heutzutage in einen Kampf mit der Kirche einlassen? Man mache sich keine Illusionen – der Staat ist alt, ist siech geworden, auch bei uns – der Glaube an ihn, an seine Autorität und seine Autoritäten ist in starker Abnahme – theilweise ganz verloren – und aus sich selbst wird er ihn schwerlich wieder herstellen. Nur der sich wiederbelebende Glaube in göttlichen Dingen kann den Glauben in menschlichen Dingen restaurieren, und dazu braucht der Staat der Kirche unerläßlich – umgekehrt viel weniger die Kirche des Staates.
Soweit konnte ich meine Gedanken im Verlaufe der kurzen Zeit ordnen und einen Ausdruck für selbe finden.
Daß ich nicht gleich selbst komme, wirst Du mir zu Guten halten. Ein Hausvater, Ökonom etc. ist nicht so leicht geschürzt und beweglich – fürs andere werde ich einem positiven Rufe folgen, will aber auch selbst den Schein vermeiden, als suchte ich ungerufen mich aufzudrängen. Das gehört zu meinen Marotten.

Von Herzen Dein Freund
Wolkenstein

Brunnersdorf, 24.11.[1]851

P.S. Kann es seyn, so schicke mir eine Abschrift dieses Briefes von der Hand eines deiner Vertrauten. Von dem Briefe kannst Du nach Ermessen Gebrauch machen.