Karl Wolkenstein kommt der Aufforderung Leo Thuns nach, sich zur Eherechtsfrage zu äußern. Zuvor gibt er aber zu bedenken, dass er weder Jurist noch Kanonist sei und so kein gebührendes Urteil abgeben könne. Seine Ansichten über die Eherechtsfrage leitet er aus zwei grundsätzlichen Überzeugungen ab: Zunächst steht für ihn fest, dass der Staat nicht die Herrschaft über alle sittlichen und materiellen Belange seiner Bürger haben könne. Wolkenstein glaubt, dass der Staat sich damit Aufgaben aufbürde, die er nicht erfüllen könne und damit bloß weiter an Ansehen verlieren werde. Wolkenstein zufolge sollte sich der Staat in dieser Frage daher zurückhalten und das Feld des Eherechts der Kirche überlassen. Zudem ist Wolkenstein der grundsätzlichen Überzeugung, dass Österreich wieder stärker ein katholischer Staat werden solle. Auch deshalb sei die kirchliche Autorität in Fragen des Eherechts wiederherzustellen. Schließlich spricht Wolkenstein seine Hoffnung aus, dass durch die Kraft der katholischen Kirche und des Glaubens auch das Ansehen des Staates wieder zunehmen werde.
Werthester Freund!
Ich habe gestern Nachmittag Deinen Brief vom 18. dieses Monats samt Beilagen
erhalten und beeile mich, ihn umgehend zu beantworten.
Ich hielte es nicht
für recht, wollte ich eine Aufforderung ablehnen, in einem Falle wie dem
vorliegenden, meine geringen Kräfte zu Diensten zu stellen. Ich muß jedoch
bemerken, daß ich überhaupt kein gelehrter Jurist, noch weniger ein Kanonist
bin. Auch die Praxis both nur höchst selten Gelegenheiten auf den Gegenstand der
Frage – das Eherecht – zurückzukommen, und so ist mein positives Wissen über
diesen Gegenstand ein sehr mageres. Ob Du nun ein so qualificirtes oder nicht
qualificirtes Individuum brauchen kannst – muß ich Deiner Beurtheilung
anheimstellen. Du wirst daher auch vorderhand kein definitives Urtheil über die
principielle Frage von mir erlangen, da ich diese bisher niemals zum
principiellen Gegenstande meines Nachdenkens gemacht habe. Im Allgemeinen jedoch
soviel. Es scheint mir einer der Grundirrthümer moderner Auffassung, daß man den
Staat zum Herrn aller sittlichen und materiellen Belange machen wollte. Es ist
diese Idee von jenen negativen Geistern ausgegangen, welche die Gesellschaft,
wie sie in Europa bestand, zerstören und sich zu
diesen Zwecke des Staates bedienen wollten. Damit der Staat den erwarteten
Dienst leisten könne, mußte zuförderst die Idee seiner allesumfassenden
Bedeutung und seiner Omnipotenz in diesem weiten Bereiche zum Gangbaren gemacht
werden. Der Staat ging in diese Falle, der Köder schmeckte den eitlen
Gewalthabern. Da kam nun der zweite Schritt zu thun. Jene negativen Geister
mußten an Stelle der bisherigen Gewalthaber Herrn des Staates werden, der
seinerseits der Herr aller Dinge war. An diesem zweyten Stadium laboriren wir
derzeit.
Der Staat hat meines Erachtens weder Recht noch Beruf zu einer
Herrschaft in solchem Umfange und solcher Intensität – schon darum nicht, weil
er nicht die Mittel hat, die Aufgabe zu bewältigen, die er sich aufgehalst –
wenigst in einem positiven Sinne nicht (im bloßen Zerstören mag er es weit genug
bringen). Die Lügenhaftigkeit, welche den Staat Dinge versprechen läßt, die er
nicht halten kann, hat ihn in Europa so sehr in
Mißkredit gebracht, hat z. B. in Frankreich
bis zum directen Hasse gegen die Staatsidee erbittert.
Wie beschränkt sind
die Mittel des Staates auch nur in Bezug auf materielle Dinge. Man verspricht
Reichthum, Wohlstand, Genüsse. Wie täuschend haben sich alle diese
Beglückungstheorien bewiesen, wie unsicher zeigt man sich in den Mitteln und
Wegen. Da soll es die Absperrung und der Zollschutz, dort der freie Commerz –
heute das Zusammenhalten und morgen die Zersplitterung der Güter seyn
etc.
Noch viel beschränkter sind seine Agentien, wo es sich um sittliche
Belange handelt, und von dem ohnedies nicht allzureichen Vorrathe
sittlich-politischer Motive als da sind Treue, Respekt, Unterordnung etc., wie
viel hat man gerade in letzter Zeit muthwillig zerstört, so daß dem Staate außer
dem militärischen Geiste nahezu nichts dergleichen mehr geblieben ist. Daß er
sich in dieser Beziehung überhaupt und insbesondere heutzutage mit der Kirche
nicht messen könne, scheint mir unleugbar. Wie weit der Staat seine Wirksamkeit
an Umfang und Inhalt auszudehnen habe, darüber läßt sich ein allgemeines Maß
wohl nicht feststellen. Anders ist dies in einem kleinen - anders in einem
großen Reiche - anders da, wo eine natürliche gesellschaftliche Ordnung fast
nicht mehr besteht, wie z. B. in Frankreich,
anders dort, wo mehr oder minder lebensfähige Reste einer solchen vorhanden sind
– anders da, wo eine kirchliche Gesellschaft neben dem Staate nur dem Namen nach
besteht wie in protestantischen Ländern, anders dort, wo der unverwüstliche
Organismus der katholischen Kirche neben dem Staate waltet – anders war es zur
Zeit der Reformation, wo die Revolution gegen die Kirche gerichtet, diese
zerrüttet und das weltliche Schwert nöthig war sie aufzurichten – anders heute,
wo sich die Revolution gegen die politische Gesellschaft gekehrt, wo die
sittlichen Träger des Staates hinfällig, wo die Rollen gewechselt, der Staat
abgelebt in dem wieder erwachenden kirchlichen Leben einen Haltpunkt suchen
muß.
Ich habe etwas weit ausgeholt – es scheint mir aber nicht unnöthig. Es
handelt sich um die Frage, ob der Staat sich aus einem Gebiethe – das des
ehelichen Verhältnisses – zurückziehen und dieses Gebieth der Kirche überlassen
solle. Abgesehen von positiven Rechts- und Geschichtsmomenten – abgesehen von
der Frage, ob Oesterreich sich auf den
Standpunkt kirchlicher Indifferenz stellen dürfe, und letzteres angenommen,
warum sollte er es nicht? Sind die Zwecke der Gesetzgebung über die Ehe und
deren Handhabung besser erfüllt worden, seit der Staat solche in die Hand nahm?
Wird es den Begriff der Heiligkeit der Ehe, des Familienbandes und alles dessen
was daran hängt stärken, wenn nicht der religiöse, sakramentale Charakter,
sondern der Moment des Vertrages als das Präcipuum hervortritt? Wenn nicht der
Gewissensrichter, sondern derselbe Richter Recht spricht, der über Kauf und
Verkauf, über Acker und Wiesen urtheilt? Hat der Staat eine bessere Gewähr, wenn
er die Sache in die Hände seines – und insbesondere seines dermaligen Richterstandes – eines Elementes legt, in welchem dürrer
Rationalismus und anderes Unwünschenswerthes vorherrscht – oder wenn sie an die
Bischöfe und deren Räthe kurz an Elemente übergeht, in welchen unverkennbar ein
besserer Geist, ein tieferes Verständnis der Dinge sich herausarbeitet.
Ja,
hat der Staat auch in politischer Beziehung irgendetwas dabei zu verlieren, wenn
der Wirkungskreis seiner Beamteten und hiemit ihr Einfluß ein beschränkterer und
der des Clerus ein ausgedehnterer wird?
Ich bin weiters der Meinung, daß
Oesterreich wieder ein katholisches
Reich werden – der Geist des Katholizismus es durchdringen müsse. Mit diesem
Postulate würde es geradezu unvereinbarlich seyn, der Kirche ein Gebieth so weit
streitig zu machen, als sie es nach ihren wesentlichen Institutionen in Anspruch
nehmen muß. Das katholische Oesterreich
kann sich mit dem, was der Katholizismus fordert, nicht in Widerspruch setzen,
ohne an seinem eigenen Fundamente zu rütteln – was übrigens allerdings in
anderen Fragen ein vorherrschender Zug der modernen österreichischen Politik war
– ob noch ist, weiß ich nicht.
Mit welcher Aussicht des Erfolges endlich
möchte man sich heutzutage in einen Kampf mit der Kirche einlassen? Man mache
sich keine Illusionen – der Staat ist alt, ist siech geworden, auch bei uns –
der Glaube an ihn, an seine Autorität und seine Autoritäten ist in starker
Abnahme – theilweise ganz verloren – und aus sich selbst wird er ihn schwerlich
wieder herstellen. Nur der sich wiederbelebende Glaube in göttlichen Dingen kann
den Glauben in menschlichen Dingen restaurieren, und dazu braucht der Staat der
Kirche unerläßlich – umgekehrt viel weniger die Kirche des Staates.
Soweit
konnte ich meine Gedanken im Verlaufe der kurzen Zeit ordnen und einen Ausdruck
für selbe finden.
Daß ich nicht gleich selbst komme, wirst Du mir zu Guten
halten. Ein Hausvater, Ökonom etc. ist nicht so leicht geschürzt und beweglich –
fürs andere werde ich einem positiven Rufe folgen, will aber auch selbst den
Schein vermeiden, als suchte ich ungerufen mich aufzudrängen. Das gehört zu
meinen Marotten.
Von Herzen Dein Freund
Wolkenstein
Brunnersdorf, 24.11.[1]851
P.S. Kann es seyn, so schicke mir eine Abschrift dieses Briefes von der Hand eines deiner Vertrauten. Von dem Briefe kannst Du nach Ermessen Gebrauch machen.