Karl Wolkenstein an Leo Thun
Brunnersdorf, 2. Dezember 1850
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Regest

Karl Wolkenstein bittet Leo Thun die Bewerbung seines Hausarztes für die Stelle des Bezirksarztes zu unterstützen. Wolkenstein bürgt für den Charakter und die medizinischen Fähigkeiten des Arztes. Anschließend geht Wolkenstein auf die Reformen des Staates und der Verwaltung und deren Folgen für die Landbevölkerung ein. Aus seiner Sicht zeigen sich nämlich dort die Folgen der Reformen am deutlichsten. Wolkenstein zeigt sich zudem ziemlich skeptisch, was den Erfolg der Reformen betrifft und sieht insbesondere historisch gewachsene, organische Strukturen der Gesellschaft und des Zusammenlebens bedroht.

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Edierter Text

Werthester Freund!

Ich bin bisher meinem Vorsatze getreu geblieben, die Männer, welche die fast übermenschliche Aufgabe haben, Östreich in eine andere Facon zu bringen, und daher auch Dich um keinen Moment der kostbaren Zeit zu verkürzen. Indes eine Ausnahme mag erlaubt seyn und darum zur Sache.
Mein hiesiger Hausarzt Dr. Schwalb, in dem kleinen Städtchen Kralup [Kralupy nad Vlatavou] wohnhaft, bewirbt sich um die Stelle eines Bezirksarztes zunächst für den Kaadner Bezirk. Er glaubt, daß Du auf diese Besetzungen Einfluß zu nehmen habest, und bath mich deshalb um ein empfehlendes Wort. Ich kann ihm diesen Dienst einstheils nicht wohl versagen, und sehe andertheils auch kein Hindernis über den Mann zu sagen, was ich weiß oder glaube. Ich halte ihn nun für einen überhaupt sehr fähigen Mann und für einen sehr tüchtigen Arzt, wovon er an meinem jüngsten Knaben eine sehr anerkennenswerthe Probe abgelegt hat. Was Charakter und Conduite anbetrifft, so habe ich in der Welt zu viele Erfahrungen gemacht, um mich leicht in ein bestimmteres Urtheil einzulassen, ich habe jedoch niemals etwas gehört, was im geringsten ihm zum Nachtheile gereichte, und soweit ich ihn1kenne, scheint er mir von besonnenem Wesen und achtungswerthen Grundsätzen. Dixi et salvavi animam.
Den Winter habe ich vielfach leidend zugebracht. Die allgemeinen Widerwärtigkeiten, die besonderen, die mich trafen, zuletzt der Tod meiner Mutter, hatten meine Gesundheit neuerlich erschüttert, und erst seit kurzem geht es wieder zum Besseren. Was mich dabey am meisten kränkt, ist die gehinderte geistige Thätigkeit. Es rumort allerley in Kopf und Brust, aber man kann doch nichts Rechtes zu Stande bringen. Im Übrigen bin ich mit meinem Landleben ganz zufrieden. Es ist namentlich jetzt von Interesse, den Übergang von den alten Formen zu den neuen zu beobachten – zumal dieser Übergang auf dem Lande viel greller, dagegen die Veränderung in der Begriffsweise und den Stimmungen der Landbevölkerung eine viel langsamere ist. Aber, nachdem der dort weder sehr intensiv, noch sehr verbreitete Schwindel vorüber ist, denken und fühlen die meisten wohl ziemlich so wie vor 4 oder 5 Jahren, und ist der Gehalt des Lebens bey ihnen kein wesentlich verschiedener geworden. Die Formen aber sehen wir Stück für Stück abfallen und neue an deren Stelle errichten.
Daß mit dem nöthigen Aufräumen der alten Formen allmälig auch der Geist gänzlich entweichen werde, der sie belebt und in ihnen gelebt hat, daran zweifle ich nicht; denn keine Richtung des Geistes – keine Stimmung des Gemüthes – kann in dieser Welt bestehen und wirken, ohne sich an sichtbare und greifbare Formen zu halten – selbst die Religion kann es nicht.
Aber nicht ebenso ist umgekehrt mit der neuen Form auch der neue Geist – oder überhaupt ein Geist gegeben. Ob sich der nun finden werde oder ob wir gleich unserem auserwählten Vorbilde Frankreich durch Menschenalter uns auf dem Gefrierpunkte der Negation abquälen werden, wo das Alte tot und das Neue nicht lebendig ist, ob die politische Reformation des 18. und 19. Jahrhunderts glücklicher seyn werde als die religiöse des 15. und 16. – die es in ihrer weiteren Entwicklung wohl zur Glaubenslosigkeit, aber nicht zu einem neuen Glauben bringen konnte, und um einen Glauben zu gewinnen allem Anscheine nach wieder zu dem alten zurückkehren muß, darüber sind die Meinungen getheilt – und habe ich, wie Du weißt, meine eigenen schmerzgalligen Grillen.
Als Egoist habe ich aber keine Ursache die Veränderung zu bedauern, die sich eben in dem gegenwärtigen Momente macht – ich werde sittlicher und materieller Verantwortlichkeit ledig, mag der Staat zusehen, wie er besser damit fertig wird. Ist doch der neue modus vivendi überhaupt recht eigentlich das Werk des sich auf sich selbst stellenden Egoismus, der sich dabey auch ganz behaglich finden könnte, würde ihn nicht die ganz gegründete Furcht quälen, daß er früher oder später auf einen noch derberen und rücksichtsloseren Egoismus stoßen werde (Radicalismus – Socialisismus etc.). Aber so wie ich bin – mit jener Vorliebe für sittliche und gemüthliche Beziehungen, wie sie in die menschlichen Verhältnisse seit Jahrhunderten vererbt waren – nicht ohne Verständnis (wenigst[ens] bilde ich mir es ein) für die verlorene Weisheit, welche den Menschen in seiner Ganzheit anzufassen und durch vielverschlungene materielle, geistige, gemüthliche Fäden aneinanderzuknüpfen und dem Egoismus Gegengewichte zu setzen wußte – ohne Glauben in die modernen Institutionen und in die Fruchtbarkeit der Versuche organisches Leben hervorzurufen, während man gleichzeitig die verbindenden und wärmeerzeugenden Elemente verbannt und mit dem Lichte allein Leben zu wecken und zu erhalten wähnt – durch die Erfahrung belehrt, daß der Geist des Zerreißens nicht bey den größeren Kreisen stehen bleibt, sondern tiefer und tiefer hinabgreift und endlich auch an den letzten Knoten – die Familie geht (die Civilehe) – kurz, so wie ich bin, kann ich auch die Aufräumung der letzten patrimoniellen Trümmer nicht ohne bedauernden Rückblick in die Vergangenheit betrachten. Ob das klar ist, was ich da sage – weiß ich nicht. Es fließt da viel von Gefühlsweisen ein, die sich schwer in Worte fassen lassen.
Deiner Frau bezeige meine Verehrung und vergesse auf den Höhen des Lebens nicht ganz Deines obscuren Freundes

Wolkenstein

Brunnersdorf, 2. Dezember [1]850