Augustin Hille an Leo Thun
Leitmeritz, 3. November 1853
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Regest

Der Bischof von Leitmeritz, Augustin Hille, übermittelt Leo Thun ein von ihm verfasstes Schreiben über die Schattenseite der Eisenbahnen. Er hofft, dass Thun sich seiner Sorgen annehmen und die Regierung auf die Problematik hinweisen werde. Hille hofft außerdem, dass es Thun gesundheitlich wieder besser gehe, und er bittet, dessen Gattin zu grüßen.
In besagtem Aufsatz weist Hille darauf hin, dass die Bahnbeamten durch den zunehmenden Bahnverkehr sowohl ihrer Familie als auch ihrer Kirche entfremdet würden. Dazu komme es, weil die Eisenbahn die Sonntagsruhe nicht einhalte. Er bittet Thun daher, sich der Sache anzunehmen, damit weder das Seelenheil der Beamten noch das Wohl der Kirchen gefährdet werde.

Anmerkungen zum Dokument

Schlagworte

Edierter Text

Eure Exzellenz,
hochgeborner Herr Graf!

Ich bin so frei, einen Aufsatz über die sehr nachtheilige Schattenseite des gegenwärtigen Bestandes der Eisenbahnen Eurer Exzellenz zur hohen Prüfung und Würdigung vorzulegen. Ich habe absichtlich nicht den offiziellen Weg betreten, weil ich es aus höhern Staatsgründen wünschte, daß eine hohe Regierung proprio motu diesen wichtigen Gegenstand in Angriff nähme. Ich habe auch das Ministerium nicht speziell benannt, weil ich nicht weiß, ob Eure Exzellenz selbst es als angemessen erachten, die Initiative zu ergreifen oder wünschen, daß der Gegenstand dem Herrn Handelsminister vorgelegt würde. Ich bitte mir Hochihre erleuchtete Ansicht hochgeneigtest bekannt geben zu wollen. Ich habe eben heute aus der Zeitung entnommen, daß Eure Exzellenz am 31. Oktober wieder nach Wien zurückgekehrt sind. Gott gebe, daß sich Hochihre Gesundheit befestigt haben möge, um mit neuer Kraft den hochwichtigen Geschäften obliegen zu können. Darf ich bitten, der gnädigen Gräfinexzellenz meine aufrichtige Hochverehrung ausdrücken zu wollen?
Indem ich mich dem hohen Wohlwollen empfehle, bitte ich die aufrichtige Versicherung der hohen Verehrung und Ergebenheit genehmigen zu wollen, mit welcher ich die Ehre habe mich zu zeichnen

Eurer Exzellenz

gehorsamster Diener
Augustin Barth. Hille
Bischof

Leitmeritz, am 3. November 1853

Hohes k.k. Ministerium!

Der Gegenstand, welchen ich kraft meiner Berufspflicht einem hohen Ministerium zur geneigten Würdigung vorzulegen mir die Freiheit nehme, ist zwar seiner Natur nach ein materieller, berührt aber eine Seite, von welcher aus derselbe wesentlich in den Bereich der Kirche gehört, deren lebendigen Organe die gottbestellten Bischöfe sind. Es betrifft das Institut der Eisenbahnen. Diese äußerst wichtige und merkwürdige Einrichtung der Neuzeit ist an und für sich geeignet, den folgenreichsten Einfluß auf alle Klassen von Menschen in allen Verhältnissen des menschlichen Lebens wohlthuend zu üben, Segen und Wohlfahrt zu verbreiten und zu fördern, aber nur dann, wenn dieses geistreiche Produkt des menschlichen Scharfsinnes in seinem schnellen Fluge das religiös-sittliche Element nicht übereilt oder hinter sich zurückläßt.
Der göttliche Hauch der Religion, der in der Kirche Gottes weht und seine Bewegung auf der Bahn der Geister mit kräftiger Eile äußert, muß alle Einrichtungen im bürgerlichen Leben durchdringen, damit in ihren Wirkungen ein wahrhaft wohlthätiges Gedeihen sichtbar werde, welches nur von Gott ausgeht; damit sie den Menschen nicht von Gott abziehen und trennen und ihn so seiner höhern Bestimmung, die über die Erdenbahn reicht, gleichsam entfremden. Das ist aber grade die umfangreiche Schattenseite der Eisenbahnen nach ihrer gegenwärtig bestehenden Einrichtung. Nicht Hunderte, sondern Tausende von Menschen, die an Eisenbahnen als Beamte angestellt sind oder sonst eine Bedienstung haben, sind das ganze Jahr hindurch außerstand gesetzt, ihre von Gott und seiner Kirche gebotenen öffentlichen Religionspflichten zu üben, für das Heil ihrer Seele zu sorgen, das Bewußtsein ihrer höhern Bestimmung in sich zu nähren, zu stärken, lebendig zu erhalten, sind vielmehr der größten Gefahr preisgegeben, nach und nach in religiöser Beziehung ganz zu verkümmern, in geistige Schienen verwandelt zu werden. (An dieser Gefahr nehmen dann natürlich durch die dargebotene Gelegenheit theilweise auch mehr und weniger jene theil, die sich der Eisenbahn in ihren Berufsgeschäften bedienen.) Woher entsteht diese große Gefahr?
Weil in der Einrichtung der Eisenbahnzüge zwischen dem Sonntage und dem Wochentage durchaus jeder Unterschied behoben ist, weil der Sonntag, vorzugsweise der geheiligte Tag des Herrn genannt, an welchem der Geist des Menschen, des Christen, dem göttlichen Zuge auf der vom Herrn selbst angelegten Bahn des Heils und seiner ewigen Bestimmung folgen soll, ganz ignorirt wird.
Das ist ein öffentliches, gewaltig eingreifendes Beispiel bezüglich der Sonntagsfeier, der Heiligung der dem Dienste des Herrn vorzugsweise geheiligten und geweihten Tage; aber ein Beispiel im schlimmen, nachtheiligen Sinne, indem die Entheiligung, die leichtsinnige Vernachlässigung und wahre Geringschätzung der gottesdienstlichen Feier der Sonn- und Festtage von Jahr zu Jahr größere und bedenkliche Fortschritte macht und „das materielle Interesse“ sich als das „einzig Nothwendige“ geltend macht.
Möge man diese Sprache nicht als eine Bigotterie ansehn. Es ist ein ernster Gegenstand, der tief in das Familien- und bürgerliche und kirchliche Leben eingreift, der die höhern Interessen der Menschheit, die Grundlage der Wohlfahrt der Staaten involvirt, daher bei dem großen, unabweislichen Zusammenhange, der zwischen den geistig-religiösen und materiellen Interessen besteht, alle Aufmerksamkeit der Staatsmänner verdient.
Es hat daher einen überraschenden Eindruck gemacht, als man aus dem vielgelesenen Blatte der deutschen Volkshalle Nr. 248 vom 28. Oktober 1853 unter dem Artikel: L.C. Berlin 25. Oktober entnahm, daß selbst der Herr Handelsminister die Eisenbahnkommissariate zu gutächtlichen Äußerungen in solcher Richtung veranlaßt habe. In so wichtigen Fällen darf nach meiner Ansicht selbst ein etwaiger materieller Nachtheil nicht zu hoch angeschlagen werden, da ein solcher von dem unberechbaren Werthe höherer Interessen weit überwogen wird. Es dürfte aber nach meiner freilich incompetenten Meinung selbst in pekuniärer Beziehung kaum ein bemerkbarer Nachtheil zu befürchten sein, wenn an einem Sonn- oder Festtage entweder ganz oder doch zu einem großen Theil des Tages der Eisenbahnzug ruht, weil – abgesehen von anderweitigen Ersparnissen – die Frequenz derjenigen, welche sich der Eisenbahn zu bedienen die Absicht haben, entweder bei den nächst vorhergehenden oder nächst nachfolgenden Zügen umso stärker sein dürfte.
Ich richte nun im Herrn, dessen Name geheiligt werden soll, an ein hohes Ministerium vertrauungsvoll die freundliche angelegentliche Bitte, diesen Gegenstand, der selbst eine Vereinbarung mit benachbarten Regierungen verdienen dürfte, in hochgeneigte Erwägung ziehen und Maßregeln einleiten und treffen zu wollen, durch welche nebst den materiellen, industriellen Interessen auch den höhern kirchlich religiösen Interessen gebührende Rechnung getragen würde; wobei ich mir nur noch die Bemerkung erlaube, daß solch eine religiöse Wohlthat auch den k.k. Postbeamten und Bediensteten mit gleicher Sorgfalt zuzuwenden sein dürfte.

Augustin Barth. Hille
Bischof

Leitmeritz, am 3. November 1853