Der Theologe Konrad Martin überreicht Minister Thun-Hohenstein mit diesem Brief sein Lehrbuch der katholischen Morallehre, das vor kurzem in dritter Auflage erschienen ist. Der Minister möge das Geschenk als Beweis seiner Verehrung ansehen. Konrad bewundert die Arbeit Thuns und sieht – wie viele andere katholische Gelehrte in Deutschland – mit großer Hoffnung einer neuen wissenschaftlichen Blüte in Österreich entgegen. Das Ziel des Buches ist es, die katholische Morallehre auf wissenschaftlich fundierter Grundlage darzustellen. Martin möchte damit die katholische Morallehre auch gegenüber rationalistischen Tendenzen verteidigen.
Bonn am 23ten Mai 1855
Euer Excellenz
nehme ich mir die Freiheit ein Exemplar der dritten Auflage des von mir
                           herausgegebenen Lehrbuches1 der katholischen Moral ehrfurchtsvoll
                           und mit der gehorsamsten Bitte zu überreichen, daß Hochdieselben diesen
                           schwachen Beweis meiner Verehrung huldvoll entgegenzunehmen geruhen
                           möchten.
Bei Herausgabe dieses Werkes bezweckte ich, gegenüber der
                           verflachenden rationalisirenden Richtung, welche in neuerer Zeit auch auf dem
                           Gebiete der Moral anzubahnen versucht ward, diese so wichtige Disciplin auf
                           fester kirchlicher Grundlage aufzubauen, und hiebei zugleich den Forderungen
                           strenger Wissenschaftlichkeit gebührend Rechnung zu tragen. In wie weit dieser
                           Versuch mir gelungen sei, muß ich höherem Ermessen bescheiden anheimstellen;
                           doch fühle ich mich durch die freundliche Aufnahme, welche dieses Werk überall
                           in Deutschland gefunden hat, und welche jetzt bereits eine
                           dritte Auflage nothwendig machte, in der angenehmen Hoffnung bestärkt, einem
                           dringenden Zeitbedürfnisse entgegengekommen zu sein. Um so mehr aber glaubte ich
                           es auch wagen zu dürfen, dem höchsten Lenker und Leiter des höheren
                           Unterrichtswesens in einem Reiche, auf welches sich gegenwärtig die Blicke aller
                           katholischen Gelehrten des deutschen Vaterlandes mit Sehnsucht und Dankbarkeit
                           hinrichten, durch die Überreichung einer solchen Gabe den Tribut innigster
                           Hochachtung und Verehrung darzubringen.
Ich würde mich glücklich schätzen,
                           wenn Euer Excellenz das Buch Ihres mächtigen Schutzes, dessen sich alle höheren
                           Bestrebungen in so ausgezeichnetem Grade zu erfreuen haben, nicht unwürdig
                           erachten sollten.
Gestatten mir Euer Excellenz den erneuerten Ausdruck der
                           tiefsten Hochachtung und Verehrung, worin ich unwandelbar beharren werde
Euer Excellenz gehorsamster
Martin
Professor der Theol. an der
                           Universität Bonn