Leo Thun äußert sich zum Manuskript eines Lesebuchs für die Gymnasien von Frantisek Čelakovšký. Thun ist mit dem Ergebnis grundsätzlich zufrieden. Allerdings möchte er, dass Čelakovšký einige Änderungen vornimmt. Aus der Sicht von Thun sind einige der ausgewählten Texte nicht geeignet, da sie entweder der christlichen Moral widersprechen oder in der aufgeheizten nationalen Stimmung mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Aus der Sicht von Thun, muss das Gymnasium die Knaben zum Wohl des ganzen Staates zur sittlichen Vollkommenheit erziehen. Die weitere Auslieferung des Buches wird daher vorerst gestoppt. In anderen Angelegenheiten konnte Thun noch keine Entscheidung herbeiführen.
Wien, den 16. November 1850
Verehrter Herr Professor!
Der Drang der Geschäfte, der mich schwer für Privatbriefe Zeit finden läßt, trägt
die Schuld, daß ich Ihnen erst heute für die Übersendung des 1. und 3. Bandes
Ihres Lehrbuches 1 meinen Dank abstatte.
Ich habe das Buch mit wahrer Freude begrüßt, um so mehr thut es mir leid, daß
sie nicht ungetrübt geblieben ist. Es war mir natürlich nicht möglich es ganz
durchzusehen, sondern ich mußte mich auf ein flüchtiges Blättern beschränken.
Wenn ich dabei auch viel Treffliches gefunden habe, so fand ich doch auch
Einiges, dessen Aufnahme ich entschieden missbilligen muß. Ich erwähne nur die
drei Lehrstücke des 1. Theiles 173, 175 und 176. Wie kann man einem 12jährigen
Knaben, während ihm gelehrt wird, daß wir unseren Feinden vergeben und für
diejenigen, die uns hassen, bethen sollen, einen solchen, wahrhaft heidnischen
Fluch als Mustergedicht in die Hand geben? Ich halte es mit meinem Gewissen
unvereinbar, das zu billigen, zumal in einer Zeit, wo ohnehin Haß den nazionalen
Aufschwung vergiftet und es meines Erachtens die heiligste Pflicht der
Volkserzieher ist, christliche Liebe und friedlichen Wetteifer in die
jugendlichen Gemüther zu pflanzen. Eben so wenig paßt meines Erachtens 175 für
Kinder, welchen Zank muß dieses eine Lehrstück in einem Gymnasium in Ungarn erzeugen! Auf der anderen Seite das
Liebesgedicht 173 – für 12–14jährige Knaben!
Ich muß annehmen, daß im Drange
der Arbeit, diese Dinge Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sind oder sich durch
einen Irrthum eingeschlichen haben – mache mir aber ernstliche Vorwürfe darüber
von der Revision des Manuskriptes abgegangen zu sein. Die Gefühle der Knaben,
aus welchen die Führer des Volkes hervorgehen, der Gefahr von Verirrungen
auszusetzen, ist eine sehr ernste Sache. Überdieß werden die Feinde des
böhmischen Unterrichtes nicht ermangeln, diese Verstöße auszubeuten, gegen Sie
wie gegen das Ministerium.
Ich lasse nun das Buch einer neuerlichen Prüfung
unterziehen, habe es für Ungarn sogleich für
unzulässig erklärt und lasse Tempsky auffordern mit dem Verkaufe einzuhalten, in der
Hoffnung, daß sich mit dem Umdrucke einiger Bogen helfen lassen werde.
Ich
ersuche Sie angelegentlichst um größere Vorsicht bei der Bearbeitung der
weiteren Bände, und muß mir jedenfalls deren Revision vor der Herausgabe
vorbehalten.
In der Beilage stelle ich Ihnen das preußische
Anstellungsdekret zurück. In diesem Augenblicke ist es mir, wegen Verhandlungen
über die Stellung der älteren Professoren überhaupt, die noch nicht zum
Abschluße gediehen sind, unmöglich Ihren Wunsch zu erfüllen, doch werde ich
später darauf bedacht zu sein nicht unterlassen, sobald ich eines Erfolges
sicher sein kann. Wie wünschenswerth philologische Übungen für die Kandidaten
des Lehramtes der Muttersprache wären, erkenne ich vollkommen; die Vorlage eines
bestimmten Projektes in amtlichen Wege wird mir sehr erwünscht sein.
Mit besonderer Hochachtung verbleibe ich
Euer Wohlgeboren
ergebener
Thun