Der Rabbiner Albert Kohn wendet sich mit der Bitte an Leo Thun, er möge sich für die jüdischen Gemeinden einsetzen. Dabei erinnert Kohn an ein Treffen mit Leo Thun vor mehreren Jahren, als dieser sich am Schicksal der Juden Österreichs sehr interessiert gezeigt hatte. Kohn betont zunächst, dass die Juden zwar durch die Revolution von 1848 die rechtliche Gleichstellung erhalten hatten, gleichzeitig aber den jüdischen Gemeinden durch die Abschaffung der Judensteuer eine erhebliche Einnahmequelle verloren gegangen war, so dass das Gemeindeleben und die Schulen der Gemeinden bedroht seien. Außerdem wurde der Zusammenhalt in der Gemeinde durch die herrschende Not stark zerrüttet. Kohn bittet Thun daher, sich für die Belange der jüdischen Kultusgemeinden einzusetzen und sie vor dem Niedergang zu bewahren, so wie er es bereits bei jenen anderer Konfessionen mit Erfolg getan hat.
Eure Excellenz!
Wenn der unterthänigst Unterzeichnete es wagt von der kostbaren Zeit Eurer
Excellenz einige Augenblicke in Anspruch zu nehmen, so geschieht es in der
tiefsten Überzeugung, daß Jeder, der im Interesse des Allgemeinen an Eure
Excellenz sich wendet, noch stets offenen Zutritt und geneigtes Gehör gefunden.
In dieser Überzeugung ist es, daß ich keinen Anstand nehme, Eurer Excellenz eine
Zeit ins Gedächtnis zu rufen, wo ich das Glück hatte von Hochdenselben einiger
Aufmerksamkeit gewürdigt zu sein.
Als Euer Excellenz im Jahre 1843 durch
mehrere Monate in amtlichem Berufe in
Raudnitz
verweilten, da ward ich am 16. Juli mit einem
Schreiben von Euer Excellenz beehrt, worin Hochdieselben auf einen Spaziergang
mich einluden, um über jüdische Angelegenheiten Sich [sic!] mit mir zu
unterhalten.
An jenem mir unvergeßlichen Abende sprachen Euer Excellenz die
denkwürdigen Worte: „Der Druck, unter welchem Ihre Glaubensgenossen schmachten,
geht mir zu Herzen, und darum wünsche ich von Ihnen über so manches mir
Unbekannte mich belehren zu lassen, damit ich, wenn ich einst in die Lage kommen
sollte, etwas zur Verbesserung Ihrer Zustände thun könne.“
Durch die große
Umwälzung der letzten Jahre und durch die Gnade Seiner Majestät sind die Juden
des östreichischen Kaiserstaates befreit
worden von dem schweren Drucke unter welchem sie Jahrhunderte lang geschmachtet,
aus den verachteten Parias sind wir nun geachtete Staatsbürger worden, welche
alle Rechte des freien Menschen und des Bürgers ungeschmälert genießen.
Aber
durch die plötzliche Sprengung der eisernen Ketten haben auch die edlern Bande
des religiösen und socialen Lebens meiner Glaubensbrüder einen gefährlichen Riß
bekommen: Die Hauptquelle woraus die Mittel zur Befriedigung der
Gemeindebedürfnisse geschöpft wurden, war der Zuschlag auf die jüdische
Verzehrungs- und Vermögenssteuer, diese Quelle ist nun seit der Aufhebung der
Judensteuer versiegt, und andere sind seitdem nicht eröffnet worden, konnten
nicht eröffnet werden; denn dazu fehlt es den Vorständen an dem nöthigen Ansehen
und den Gemeinden an der nöthigen Einheit. Dadurch entstehen in allen Gemeinden
die traurigsten Zerwürfnisse, allenthalben herrscht Rathlosigkeit, schleicht
Zwietracht und Uneinigkeit sich ein. Die Schulen, welche in den letzten Jahren
den erfreulichsten Aufschwung genommen, drohen einzugehen, und das so herrlich
emporblühende Unterrichtswesen beginnt schon hie und da in den alten Zustand der
Verwahrlosung und Verwilderung zurückzusinken. Die wohlthätigen Institute,
wodurch meine Glaubensbrüder ihren Wohlthätigkeitssinn stets auf so glänzende
Weise in den Augen der Welt bewährten, sind der Auflösung nahe, und das ganze
jüdische Gemeindewesen droht dem gänzlichen Verfalle entgegen zu
gehen.
Schon beginnt der Indifferentismus, sonst so fremd unter meinen
Glaubensgenossen, wie ein Krebsschaden um sich zu greifen, schon fängt die
Ansicht an sich Raum zu verschaffen, daß mit der Judengemeinde auch die jüdische
Cultusgemeinde zu sein aufgehört, daß daher für sie keine Lasten mehr
zu tragen, keine Pflichten mehr zu erfüllen seien, und so sehen wir die Beiträge
zur Erhaltung des Cultus, der Schule und der wohlthätigen Anstalten immer mehr
sich verringern, bis diese, aller Lebenslust beraubt, den Geist aufgeben müssen.
Die Rabbiner und Lehrer, welche bisher ein äußerst kärgliches Auskommen hatten
und in einer drückend abhängigen Stellung lebten, sehen sich durch diese
Zerwürfnisse in die bedrängteste Lage versetzt und im wahren Sinne des Wortes
dem Mangel und der Entbehrung Preis gegeben.
Euer Excellenz!
Die
himmlische Vorsehung, welche die an jenem Abende zu mir gesprochenen Worte
Hochderoselben hörte und die Erhabenheit Ihrer Gesinnung kennt, hat nicht
umsonst gerade Sie auf jenen hohen Posten gestellt, damit Sie das leiblich
befreite Judenthum von den Hemmnissen seiner geistigen Entwicklung befreien. Die
Zeit ist gekommen, wo die profetischen Worte Eurer Excellenz in Erfüllung gehen
sollen, und mein Inneres sagt es mir, sie werden in Erfüllung gehen. Euer
Excellenz werden dem großen Befreiungswerke die Krone der Vollendung
aufsetzen!
Wenn der unterthänigst Unterzeichnete es wagt mit so offner
Sprache vor Euer Excellenz hinzutreten, so entschuldigt mich eines Theils die
hohe Wichtigkeit des Gegenstandes, um den es sich handelt, das Ergriffensein von
der großen Gefahr, welche unsere heiligsten Interessen bedroht, und welche
abzuwenden nur in der Hand Euerer Excellenz liegt; anderseits ermuthigt mich die
Erinnerung an jene Zeit, wo Euer Excellenz in Raudnitz
als der Schutz und Schirm des Rechtes und der Wahrheit von den Bösen gefürchtet,
von den Bedrängten aber und Gedrückten gesegnet und gepriesen wurden. Darum
scheue ich mich nicht es offen auszusprechen: Nur wenn die hohe Regierung,
welche ihren schöpferischen Werderuf schon über die Cultusangelegenheiten
anderer Confessionen ertönen ließ, auch unseren Cultusangelegenheiten ihre
Aufmerksamkeit zuwendet, kann die erlangte bürgerliche Gleichstellung zum
wirklichen Heile für uns werden und wahren Segen uns bringen.
Wenn ich nun,
gedrängt von der drohenden Gefahr und ermuthigt von der Güte, welche Eure
Excellenz mir einmal erwiesen, es gewagt habe, das traurige Bild unserer
religiösen und socialen Zustände vor den Augen Eurer Excellenz aufzurollen, so
fürchte ich doch die Grenzen der Ehrfurcht und der Bescheidenheit zu
überschreiten, wollte ich durch Organisationspläne und Verbesserungsvorschläge
der Weisheit Eurer Excellenz vorgreifen; sollten Hochdieselben aber die geringen
Erfahrungen, welche ich auf diesem Gebiethe durch ein zehnjähriges Wirken
gesammelt, und den reinen Eifer, der für das Wohl meines theuren Vaterlands und
meiner Glaubensbrüder mich beseelt, einiger Aufmerksamkeit zu würdigen geruhen,
so wird es das höchste Glück meines Lebens ausmachen meine geringen Kräfte der
Erreichung eines erhabenen Zweckes widmen zu können.
In tiefster Ehrfurcht zeichnet sich Euer Excellenz
unterthänigster
Diener
A. Kohn
Rabbiner in Raudnitz
Raudnitz, den 30. Jänner 1850