Karl Vinařický an Leo Thun
Vyšehrad, 8. Juli 1860
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Regest

Der Priester Karl Vinařický setzt sich bei Leo Thun für den wegen angeblicher Pflichtverletzung entlassenen Schulrat Josef Wenzig ein. Er bittet Leo Thun, die Gründe für die Entlassung näher zu untersuchen, Wenzig die Gelegenheit zu geben, sich zu rechtfertigen und die Entlassung gegebenfalls rückgängig zu machen. Vinařický betont dann das Engegament und die Loyalität Wenzigs. Jener habe bei Übernahme der Leitung der ersten tschechischen Realschule in Prag sowie als Inspektor der Volksschulen in Böhmen alles daran gesetzt, um die Reformen im Schulwesen durchzusetzen sowie die Nationalsprachen und die deutsche Sprache miteinander in Einklang zu bringen. Auf diesem Weg habe er sowohl den Bedürfnissen des böhmischen Volkes und als auch den Forderungen des Gesamtstaates Rechnung getragen. Vinařický nennt außerdem die von Wenzig herausgegebenen Broschüren, welche die Idee der Vereinigung aller Völkerstämme unter der herrschenden Dynastie propagierten. Aus Vinařickýs Sicht sei Wenzig daher eher als großösterreichischer Patriot denn als Separatist zu betrachten.

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Edierter Text

Euere Excellenz!

Aus Anlaß beachtungswerther Mittheilungen, welche mir Capitular Stulc über sein letztes Erscheinen vor Euerer Excellenz und über seine Unterredungen mit dem gräflichen Herrn Bruder dem k.k. Ministerialrathe Grafen Franz Thun gemacht, schickte ich mich eben an, eine Dankschrift an Euere Excellenz zu addressiren, worin ich die nachtheiligen Folgen einer systematisch betriebenen Paralysirung aller neuen der Pflege unserer Volkssprache günstigen hohen Ministerialverordnungen darzustellen beabsichtigte: als mein alter Freund, Schulrath Wenzig, mich besuchte und mir ein Schreiben Euerer Excellenz vorwies, worin ihm aufgetragen wird, „seiner Stellung freiwillig zu entsagen, Seine k.k. Majestät um Verzeihung seiner Pflichtverletzung zu bitten und sich unbedingt dem zu unterwerfen, was über ihn werde verfügt werden“. Er frug mich sodann um freundlichen Rath, was ihm in dieser Lage zu thun obläge. Ich rieth dem gekränkten Manne um eine discrete und impartiale Untersuchung der Sache bei einem hohen k.k. Ministerium anzusuchen. Indessen bitte ich ehrerbietigst Euere Excellenz wollen es meiner Pietät für den gebeugten Freund zu Gute halten, wenn ich es wage, diese Zeilen als ein Fürwort für die gute Sache einzulegen.
Das ganze Land kennt den genannten Schulrath als einen Mann, welcher seit einer Reihe von Jahren mit der loyalsten Gesinnung die nationalsprachlichen Gegensätze in der Literatur und in der Schule zu vermitteln anstrebte. Als einen solchen erkannte ihn auch die hohe k.k. Regierung, als sie ihm die Leitung einer erst zu schaffenden und so zu sagen improvisirten Lehranstalt – der böhmischen Oberrealschule – übertrug, welche Errichtung ganz geeignet war, mittelst einer naturgemäßen Unterrichtssprache und suczessiven Anlehrung der deutschen Commerz- und Staatssprache die realen Bedürfnisse des böhmischen Volkes und dem Einheitspostulate der österreichischen Staatssprache in Einklang zu bringen. Die genannte Lehranstalt gedieh unter seiner Leitung wie keine zweite im Lande. Sein Beispiel spornte den ihm untergegebenen Lehrkörper zu einer ungeahnten Thätigkeit an. Zeuge der literarischen und artistischen Leistungen des Lehrkörpers innerhalb eines Dezenniums in dem Jahresbericht der k.k. böhmischen Oberrealschule zu Prag für das Jahr 1859. Darin sind 17 deutsche, 31 böhmische Hefte, theils Originalien, theils Übersetzungen, 16 Hefte technischer und artistischer Artikeln und eine Menge von literarischen und realistischen Abhandlungen in Zeitschriften zerstreut, verzeichnet. Diese Leistungen binnen einer so kurzen Zeit möchten einer Akademie Ehre machen. Soviel bekannt, sind schon 10 Zöglinge dieser Anstalt als Haupt- und Realschullehrer angestellt, ebenso viele als Beamte, Ingenieure usw.
Als erster (provisorischer) Landesschulrath und Inspector der Volksschulen im Königreiche Böhmen hat Wenzig bei seinen Bereisungen den ersten mächtigen Impuls zur fast allgemeinen Aufnahme des neuorganisirten Schulwesens gegeben. Er hat, so zu sagen, das Eis der Schulerstarrung bei uns gebrochen.
Bei der von einem hohen k.k. Ministerium für Cultus und Unterricht mir aufgetragenen Verfassung böhmischer Schulbücher ward ich an ihn als den Vertrauensmann der kaiserlichen Regierung gewiesen. Von ihm wurden mir bei der Wahl und Vorzeichnung historischer Stoffe die leitenden Ideen des engeren und großen österreichischen Vaterlandes, dann die Idee der offenbar durch einen Akt der Vorsehung herbeigeführten Vereinigung der vielen, sonst oft einander feindlich entgegen stehenden Völkerstämme unter einer Dynastie als Leitfaden angegeben; welche Ideen an geeigneten Stellen auch Ausdruck erhielten. Diesen Grundsätzen ist Schulrath Wenzig nie untreu geworden, auch nicht in seinen letzten Broschüren. Diese erschienen im Inlande und wurden bei der präventiven Censurbehörde nicht beanstandet. Eine Pflichtverletzung kann ihm darob nicht im Mindesten zugemuthet werden. Der darin enthaltene Nachweis, daß den hohen Ministerialvorschriften und dem öfter ausgesprochenen Willen Seiner Majestät in Betreff der Wahrung und Pflege der Nationalsprachen nicht überall die gehörige Rechnung getragen werde, ist daselbst mit der äußersten Delikatesse geboten. Die Würdigung der Nationalcharaktere ist unläugbar zu dem Zwecke hervorgehoben, um die wechselseitige allmähliche Befreundung der österreichischen Völkerstämme zu vermitteln. Ein großösterreichischer Patriotismus kann für wahr nur auf dieser Basis sich entwickeln. Demnach war es gewiß ein guter Gedanke des Schulraths Wenzig, als er in seiner Schrift über die Erziehung mit nationalem Charakter das Studium der Charaktere der österreichischen Völkerstämme anempfahl und zwar – um Überschätzung zu verhüten – mit Licht und Schatten. Verkannten und verdrehten die nun wieder tonangebenden Alldeutschthümler seine allseits versöhnende Tendenz, wurden sie Wühler, und nicht der Schulrath Wenzig. Er ist zu sehr ein großösterreichischer Patriot, als daß ihm einfiele, einen Separatismus zu lehren.
Was aber immer in der letzten Zeit an sogenannten Demonstrationen in Prag vorgefallen sein mag, darf ohne ein schreiendes Unrecht zu begehen, weder ihm noch dem Lehrkörper seiner Anstalt zugeschrieben werden. Alles war durch Plusmacherei und Taktlosigkeit notorisch bekannter Leute provocirt.
In dem Drange der Zeit kann ich Euerer Excellenz nur noch betheuern, daß man an Schulrath Wenzig ein Unrecht begehen würde, wenn man ihm ein freiwilliges Aufgeben seines mit Ruhm und allgemein anerkannten Verdienste geführten Amtes aufdrängen wollte. Sollte er ohne weiters verabschiedet werden, dann müßte man über die Gerechtigkeitspflege in Neu-Österreich verzweifeln. Einem von zwei Instanzen schuldig Erklärten – Deutschthümler und Böhmenhasser – zu Lieb hat man neulich ein neues Gesetz gemacht und den unter die früheren Gesetzvorschriften gehörigen Vorfall unter das spätere Gesetz subsumirt, um ihn in der dritten Instanz lossprechen zu können. Die Welt staunte über das Sophisma der Motivirung des höchsten Gerichtshofausspruchs. Nun will man einem Schuldlosen eine Selbstanklage aufdringen. Euere Excellenz können dieses Unrecht ohnmöglich zugeben. Man möge dem Beschuldigten den Proceß machen, wenn die Stellen positive Inzichten haben: jenes Postulat wäre aber – ich wage es offen zu sagen – ein moralischer Justizmord. „Es gibt keine Moralität mehr in unserer einst gepriesenen Justiz“, hörte ich nach dem Kuhnschen Proceßschluße aus dem Munde eines höheren k.k. Staatsbeamten. So spricht auch die allgemeine Meinung. Im höchsten Staatsinteresse darf Schulrath Wenzig nicht geopfert werden. Euere Excellenz können ihn zur Verantwortung ziehen: er wird sich gewiß vollkommen rechtfertigen. Ich beschwöre Euere Excellenz dem schuldlos Verkannten hiezu Mittel und Wege zu bieten. Ich bitte flehentlich darum – um der Wahrung des Nachruhms Euerer Excellenz willen – in ungeheuchelter Ergebenheit

gehorsamster Diener
Karl Winařický
Capitular

Wyšehrad, am 8. Juli 1860