Geschichte der Edition

Baernreithers Tagebücher und Aufzeichnungen zeugen von einem umfassenden Insiderwissen über die politischen Vorgänge und stellen daher eine der wichtigsten Quellen der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende von 1900 dar.

Baernreither als Tagebuchschreiber

Baernreither führte zunächst nur sporadisch Tagebuch, so etwa 1872 während einer Orientreise und in den frühen 1880er Jahren bei sozialpolitischen Studienreisen nach Deutschland, Belgien und Großbritannien. Erst anlässlich der Badenischen Sprachenunruhen, die das Parlament in eine bis dahin nicht gekannte Krise stürzten, begann Baernreither die Erlebnisse kontinuierlich im Rückblick, später tagesaktuell festzuhalten. Von 1898 bis 1918 füllte er 19 Tagebuchbände, die einen einmaligen Blick hinter die Kulissen der politischen Praxis bieten.

Baernreither überarbeitete seine Tagebücher in seinen letzten Lebensjahren für eine Veröffentlichung, die dem Verständnis für die Ursachen des Zerfalls der Habsburgermonarchie und der Darstellung seines eigenen Wirkens dienen sollte. Zu diesem Zweck redigierte er den Text mit Bleistift, strich Passagen und ergänzte sie rückblickend mit späterem Wissen. Auf Grundlage der in den Tagebüchern erhalten Redaktionstätigkeit erstellte er maschinschriftlichen Skripten, die er selbst als „Fragmente eines politischen Tagebuches“ betitelte. Seinen schriftlichen Nachlass vermachte er vor seinem Tod 1925 seinen Freunden Josef Redlich, Karl Urban und Oskar Mitis, die als sogenanntes „Baernreither-Kuratorium“ die im Haus-, Hof- und Staatsarchiv verwahrten Bände veröffentlichen sollten.

Die ersten Veröffentlichungen von Teilen der Tagebücher

Bereits 1928 erschienen – nach thematischen Gesichtspunkten getrennt – „Die südslawische Frage und Österreich-Ungarn vor dem Weltkrieg“ und 1929 ein „Römisches Tagebuch“, beide herausgegeben von Josef Redlich, und 1938 „Der Verfall des Habsburgerreiches und die Deutschen. Fragmente eines politischen Tagebuches 1897–1917“, herausgegeben von Oskar Mitis.

Diese Editionen stellen allerdings nur eine Auswahl der von Baernreither umgearbeiteten Tagebücher dar. Eine Edition der umfangreichen originalen, authentischen Tagebücher, aber auch der nicht veröffentlichten Teile der „Fragmente“ sind seit langem ein Desiderat der Forschung.

Dieses Ansinnen wurde in den frühen 1990er Jahren von Fritz Fellner als Vorsitzendem der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs aufgegriffen. Zunächst wurde Franz Adlgasser mit der Bearbeitung der den Ersten Weltkrieg umfassenden Tagebücher Baernreithers beauftragt. 2011 übernahm Doris Corradini die Editionsarbeiten. Unterstützt wurde sie dabei von Thomas Hagen, der die Transkription der Tagebücher 1 bis 11 erstellte.

Vom Archiv ins Netz - digitale Edition

Als Hindernisse für eine Gesamtedition stellten sich allerdings einerseits der beachtliche Umfang der Aufzeichnungen heraus und andererseits die Frage nach der Darstellung der Edition. Denn die beiden Versionen – die originalen Tagebücher und die „Fragmente eines politischen Tagebuchs“ – sind als Quellen von gleichem historischem Wert. Die übliche Praxis, einen Leittext zu wählen und Varianten in den Anmerkungsapparat zu verbannen, ist somit hier nicht zielführend. Eine Lösung für die Darstellung bieten nun die Möglichkeiten digitaler Editionen.

Zu diesem Zweck beauftragte die Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 2017 Joseph Wang und Doris Corradini mit einer Pilotstudie. Dafür wurden die Tagebücher Nr. 7 und 8 ausgewählt, die die Monate vor und um die Wahlrechtsreform von 1907, bei der das Kurienwahlrecht durch das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht ersetzt wurde, behandeln und die entsprechenden Kapitel der „Fragmente“. In der Studie wurden die unterschiedlichen praktischen Problemstellungen ausgelotet.

Mit dem von CLARIAH-AT von 2022 bis 2024 in Kooperation mit der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs geförderten Projekt „Prototype of a Historical-Critical Online Edition based on the Estate Materials of Josef Maria Baernreither“ wurde nun von Richard Hörmann die Basis für eine vergleichende Edition geschaffen. Als Probesample wurden die in der Pilotstudie edierten Tagebücher und „Fragmente“ herangezogen. Da die Kommission für Neuere Geschichte Österreichs seit Jahrzehnten die Absicht verfolgt, die Tagebücher und die von Baernreither redigierten „Fragmente eines politischen Tagebuches“ in ihrer Gesamtheit zu veröffentlichen, ist dies nun den kommenden Jahren bis 2030 geplant.